Laudatio von Ernst Strouhal zum Ehrenpreis des österreichischen Buchandels für Toleranz in Denken und Handeln 2023

Lesen Sie hier exklusiv die Laudatio von Autor und Universitätsprofessor Ernst Strouhal für Philippe Sands, Preisträger des diesjährigen Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln.


Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Festgäste,
lieber Philippe Sands,

und lieber Benedikt Föger: Eigentlich sollte ich Ihnen ja böse sein. Als Sie mich vor ein paar Monaten gefragt haben, ob ich hier zum Werk von Philippe Sands sprechen will, habe ich ohne Bedenken zugesagt. Es ist nicht nur eine große Ehre, sondern auch eine große Freude, ich kenne seine Schriften und Bücher seit langem und bewundere sie.

Als ich jedoch vor ein paar Tagen nachfragte, wie lange ich denn sprechen dürfe und ich zur Antwort bekam – „zwölf Minuten“ –, da war ich Ihnen böse.

Wie soll ich, lieber Herr Föger, in zwölf Minuten erklären, was mich in den Werken und am Wirken von Philippe Sands bewegt? Das ist eine ganz und gar unmögliche Aufgabe. Das Beste wäre es, dachte ich mir, gemäß der magischen Landkarte von Jorge Luis Borges, die ident wird mit der Wirklichkeit, eine Wagenladung voller Bücher, Filme und Schriften von Sands an Sie alle hier zu verteilen und ihnen anschließend großartige Tage bei der Lektüre zu wünschen.

Da dieser Ausweg aber mit größter Wahrscheinlichkeit durch die Knausrigkeit des Veranstalters verstellt ist und die allermeisten von ihnen ja die Bücher von Philippe Sands kennen, möchte ich mich auf einen einzigen Aspekt im Werk von Sands konzentrieren. Er ist seltsamer Weise in den vielen Würdigungen seiner Person und in den Besprechungen seiner Werke ein wenig vernachlässigt worden.

Ich möchte auf den brillanten Erzähler Philippe Sands und sein Engagement für Sprache und die Formen der Vermittlung aufmerksam machen. Das erscheint mir aber im aktuellen politischen Diskurs nicht unwichtig. Demokratie ist bekanntlich nicht bloß Meinungsäußerung, sondern Meinungsbildung, und diese ist nicht nur eine Sache der Inhalte, sondern auch eine Sache der Form, das heißt es geht darum, wie wir über komplexe und kontroverse Sachverhalte zu sprechen in der Lage sind. Sands’ Werke sind meines Erachtens auch in dieser Frage wertvoll.

In ‚The Ratline‘ erzählt Sands von Otto von Wächter, einem österreichischen Nazi erster Stunde, Gouverneur des Distrikts Krakau und Galizien, mitschuldig am Holocaust, und er erzählt von seinem 1939 geborenen Sohn. Sands besucht ihn häufig, führt mit ihm über Jahre heroisch-geduldige Gespräche. Trotz aller Evidenz der Verbrechen seines Vaters ist er nicht zu überzeugen, dass dieser sein Vater ein Verbrecher und Massenmörder war.

Sands schafft in seinem Buch mehrfache Doppelbelichtungen. Auf einigen ist er selbst mit im Bild. Sie zeigen den Erzähler bei seinen Begegnungen mit Wächters Sohn und bei seinen peniblen historischen Recherchen in der Gegenwart. Auf einer anderen Ebene wird die Biographie des Vaters von seinem frühen illegalen Naziengagement in den 20-er Jahren bis zu seinem Tod 1949 in Rom nachvollzogen.

Auf einer dritten narrativen Ebene konfrontiert Sands den Sohn Wächters mit Niklas Frank, dem Sohn von Hans Frank, Generalgouverneur von Polen und 1946 als Massenmörder und Kriegsverbrecher hingerichtet. Niklas Frank hat sich der Figur seines Vaters in einem schwierigen Prozess der Distanzierung gestellt. Sie führte schließlich zur radikalen, da wüsten Ablehnung des Vaters.

Beider Söhne sind sich in gewisser Weise ähnlich wie Doppelgänger – sie sind Wiedergänger der Geschichte – und sind doch grundverschieden. Die Gegenüberstellung erzeugt Spannung. Sie charakterisiert zugleich zwei Grundtypen des österreichischen Umgangs mit dem Holocaust: Geschichtsverneinung und -vergessenheit auf der einen Seite und auf der anderen, das Bewusstwerden einer Herkunft, die nicht vaterlos war, sondern in der die Väter mitunter Verbrecher waren.

Dieser Prozess des Bewusstwerdens war in Österreich bekanntlich ein schmerzhafter, unheimlicher Prozess, und er ist es noch. Eine vollständige Immunisierung gegenüber dem Erbe der Täter ist nicht eingetreten. Gerade hier und gerade in diesem Bundesland in der aktuellen politischen Koalition wird dies sichtbar.

‚The Ratline‘ versammelt eine Vielzahl unheimlicher Begegnungen – mit Lebenden und Toten und mit den Lebendigtoten. „Unheimlich“ sind die Begegnungen im klassischen Freud’schen Sinn: Das Un-Heimliche ist bei Freud mehrdeutig: Es umfasst das „Nicht-Heimelige“, also das, was nicht dem Heim bzw. der Heimat zugehörig ist. Zugleich ist das Un-Heimliche etwas, was „nicht heimlich“ ist, was einst heimlich, im Verborgenen, geschah und nun wiederkehrt und sichtbar wird.

Genau dieses Unheimliche der Heimat erfasst Sands in seinem zwischen Gegenwart und Vergangenheit schwankendem Blick mit äußerster Präzision. Bereits im ersten Kapitel findet sich ein zentraler, programmatischer Satz, der uns quer durch sein Buch begleitet: „Es kommt“, schreibt Sands, „auf die Details an.“

Zentral ist der Satz für mich, weil er für alle Literatur gilt: In der Kunst gibt es keine Nebensachen, alle Details sind Hauptsachen und nur durch ihre Beachtung können wir vorgeformten Wahrnehmungen und ideologischen Mustern, die unseren Blick auf die Wirklichkeit trüben, entgehen. Dafür wird der Kunst auch in der Verfassung Autonomnie und Freiheit zugestanden.

Dass der Autor auch Jurist ist, scheint hilfreich. Man lernt in dieser Schule, die auch Albert Drach, Ferdinand von Schirach und Franz Kala besucht haben, klar zu denken und präzise zu formulieren. Stendhal soll jeden Morgen, begeistert von der Klarheit des Stils, im Code Napoleón gelesen haben, um sich in sein Tagwerk einzuschwingen. Ob derartige Stilübungen auch heute etwa mit der Bauordnung oder dem Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz möglich sind, bezweifle ich, aber bei Sands ist diese Verbindung von Jurisprudenz und Literatur jedenfalls produktiv und Grundlage einer Poesie der Sachlichkeit.

Sachlichkeit ist ein kostbares Gut, angesichts der aktuellen Diskussion, angesichts des seit John Locke bestehenden, unauflöslichen Paradoxons der Toleranz. Wir müssen ja bis zu einem gewissen Grad Gruppen tolerieren, die der Toleranz selbst feindlich gegenüberstehen. Wie gesagt: bis zu einem gewissen Grad. Die präzise Sprache des Rechts ist bei dieser Grenzziehung unser wichtigstes, vielleicht das einzige Instrument der Orientierung.

Neuerdings werden zudem Stimmen laut, die den Begriff der Toleranz selbst angreifen (ich glaube, man nennt es „dekonstruieren“). Der Universalismus der Aufklärung, Liberalismus und das Konzept der Toleranz seien „Agenten, die den Westen aufwerten. Der Westen gibt sich via Toleranz bloß den Anschein, die Vorzüge der liberalen Demokratie weiterzugeben.“ (Wendy Brown), in Wahrheit gehe es bloß um Macht. Tatsächlich besteht zwischen Tolerierendem und Toleriertem stets ein Machtgefälle. Die Tolerierenden agieren stets aus einer superioren Position, blicken in gewissem Sinne auf die Tolerierten hinab und werten sich dadurch selbst auf. Dem Machtgefälle entgeht man nicht, allerdings besteht kein Anlass, deshalb das Konzept der Toleranz zu überborden. Man kann man sich des Gefälles bewusstwerden und darauf achten, dass die Mittel und Ziele der Aufklärung in eine transparente Logik des rechtlichen Verfahrens eingebettet werden.

Wie diese Logik funktioniert, zeigt uns Sands in einem anderen Werk auf eindrucksvolle Weise. In ‚The Last Colony‘ erzählt er entlang der Biographie einer Bewohnerin der Chargos-Inseln im Indischen Ozean, Liseby Elisé, vom Jahrzehntelangen Kampf um die Durchsetzung der Menschenrechte; im Fall der Bewohnerinnen und Bewohner der Inseln ist es der Kampf um Selbstbestimmung und um ihre Rückkehr nach ihrer widerrechtlichen Deportation zu Beginn der 1970-er Jahre.

Entlang ihrer Geschichte zeigt Sands die Geschichte des Völkerrechts und das Funktionieren seiner Institutionen, sie reicht von der Charta der Vereinten Nationen in den 1940-er Jahren, über die grundlegenden Resolutionen zur Dekolonialisierung in den 1960ern bis zu den wegweisenden Beschlüssen zum Recht auf Selbstbestimmung der Völker und zur Fortentwicklung Internationalen Strafrecht in der Gegenwart. Sands erzählt dabei keine lineare Geschichte des Fortschrittss, sondern die Geschichte eines Kampfes und Ringens um Details. Die abstrakte Logik des internationalen Rechts und seiner Institutionen ist nicht immer einfach zu verstehen, aber über die Geschichte der Madame Elysé gelingt ihm ein bedeutender Beitrag zur Vermittlung der epochalen Bedeutung dieses Kampfes.

Natürlich ist sich Sands der Grenzen und Gefahren des Erzählens bewusst. Unreflektiert führt das Erzählen zu einer Polarisierung durch Emotionalisierung, nicht Empathiemangel ist heute das Problem, sondern ein ungelenkter Überschuss an Emotionen, in dem alles jederzeit „Haltung“ ist, die bloß ausgetauscht wird, aber nicht kritisch diskutiert wird, in dem jede Wortmeldung, auch wenn sie noch so unbedarft ist, in Permanenz zur „Meinung“, der „eigenen Meinung“, über alles wird, und die Meinenden glauben, dass sie die Berechtigung haben, Beachtung zu finden. Hegel hat dies in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ die „geistlose Freiheit des Meinens“ genannt. Sie ist auf das bloße „Hererzählen“ beschränkt, auf das Beschreiben der „Anfänge von Gesetzen, Spuren der Notwendigkeiten (und) Anspielungen auf Ordnung“ und „witzige“ Bemerkungen über scheinbare Beziehungen, aber das geistlose Meinen kann weder Wissen hervorbringen noch ist es Freiheit im Hegelschen Sinn. Ist damit nicht schon bei Hegel unsere Gegenwart präzise beschrieben?

Der aufgeklärte Diskurs mündet heute statt in Verständigung in eine opake Massenschlägerei um Aufmerksamkeit. Das Ergebnis ist eine semantische Sauce, die so lange verrührt wird, bis sogar wie jüngst Massenvergewaltigungen und Völkermord als ein mehr oder minder legitimer Akt in einem Befreiungskampf erscheinen können.

Dagegen hält Sands die klare Benennung von Sachverhalten und die kunstvolle Einhegung des Narrativen. Es gelingt ihm, seine Geschichten in klare Argumente münden zu lassen, und Anschaulichkeit zu erzeugen, ohne Komplexität zu reduzieren. Dies ist schwierig, aber in der aktuellen Krise der liberalen Demokratie meines Erachtens notwendiger denn je.

Der Autor und Anwalt Philippe Sands ist ein Weltbürger, der sich in die Agenda des Staatsbürgers einmischt, ein Citoyen im klassischen Sinn der Aufklärung: streitbar, mit klarer Stimme sich artikulierend und einer, der im Zusammenwirken seiner unterschiedlichen Talente Zusammenhänge erzählbar und damit für uns verstehbar macht.

Für Ihre Erzählkunst, für Ihr Engagement, Ihre Klarheit und für die Anschaulichkeit der Darstellung möchte ich mich bei Ihnen, lieber Philippe Sands, heute im Namen vieler bedanken. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Und Ihnen, lieber Herr Föger, bin ich nicht böse. Also nicht sehr.

Ernst Strouhal, 19.11.2023.

v.l. Ernst Strouhal, Benedikt Föger, Philippe Sands, Rosie Goldsmith, Walter Grond © Sascha Osaka / Elit
(c) Sascha Osaka / Elit
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