Dietmar Grieser zum 90. Geburtstag

Der österreichische Autor Dietmar Grieser feierte am 9. März seinen 90. Geburtstag. Grieser ist Verfasser zahlreicher Sachbücher, die u. a. bei Amalthea Signum, Residenz, Böhlau und Haymon erschienen und ist zudem als Journalist, Rundfunk- und Fernsehautor tätig.

Anlässlich seines Geburtstags erscheint hier ein Interview mit Dietmar Grieser aus dem anzeiger 2/23.

Ich bin ein emsiger Typ

Dietmar Grieser hat in seinem Leben mehr als fünfzig Bücher geschrieben. Aber keine Autobiografie und keinen Roman. Ihm geht es um Menschen, die im Hintergrund stehen und ihre Schauplätze. Das muss reichen, sagt er.

Interview: Erich Klein.

Der Autor Dietmar Grieser wurde 1934 in Hannover geboren, in Münster studierte er Publizistik und Sozialwissenschaft, seit 1957 lebt er in Wien. Seine Karriere als Verfasser von Bestellern und Longsellern begann 1973 mit Nachforschungen an Schauplätzen der Weltliteratur zwischen Schloss Gripsholm und River Kwai. Es folgten Porträts von Schriftsteller- und Künstlerwitwen sowie zahlreiche Reisen in fast alle Kontinente.

Grieser schrieb über heimliche Genies des einstigen Kakanien und große Liebschaften. Das Leben meist unbekannter Diener großer Persönlichkeiten brachte er ebenso zum Leuchten wie den Tiergarten der Weltliteratur. Für eine eigene Autobiografie fehlten dem meisterhaften Stilisten und Autor von über fünfzig Büchern „Geduld und der lange Atem“, wie er selbst sagt. „Geliebte Ukraine“, Griesers kürzlich veröffentlichte literarische Spurensuche zwischen Donezk und Anatevka, erschien wie der Großteil seiner Bücher im Amalthea Verlag. Zum Gespräch kam der heute neunundachtzigjährige Schriftsteller ins Wiener Café Zartl.

Herr Grieser, Sie haben über fünfzig Bücher geschrieben. Das aktuelle ist das wievielte?

Dietmar Grieser – Ich weiß es gar nicht. (lacht) Aber wir könnten jetzt mein Fünfzig-Jahr-Jubiläum als Buchautor feiern. „Von Schloss Gripsholm zum River Kwai“ ist 1973 als Fischer Taschenbuch erschienen. Das Buch sollte eigentlich „An Ort und Stelle“ heißen, aber die Buchhandelsvertreter, die immer das letzte Wort haben, meinten: „Schöner Titel, ‚An Ort und Stelle‘– aber bitte was an Ort und Stelle?“ Es wurden 20.000 Stück gedruckt und alle verkauft. Ich war von meinem ersten Erfolg selber überrascht und habe gedacht: Ja, das musst du vielleicht fortsetzen …

Beginnen wir trotzdem am Anfang Ihres Lebens: Die ersten Bücher?

Grieser – Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, was man mir vorgelesen hat. Beim Einschlafen versuche ich gelegentlich, mich an den ersten Anzug, den ersten Kuss oder das erste Buch zu erinnern. Ich weiß nur, welche ersten Bücher ich selbst aus der Leihbücherei geholt habe Das war natürlich Karl May. Es gab auch eine kurze Phase mit Piraten-Büchern – da konnte man sich so richtig fürchten. Und dann gab es einen Autor, den heute kein Mensch mehr kennt, einen Isländer namens Jón Svensson. Er stammte aus einer armen, großen Familie im Norden Islands und schrieb Abenteuer­romane für die Jugend, die mit seiner eigenen Entwicklung zu tun hatten. Er wurde mit zwölf Jahren mutterseelenallein aufs Festland geschickt, man versprach ihm einen Studienaufenthalt in Amerika, er blieb dann aber in Europa. Er wurde katholischer Geistlicher, kränklich und später von der Gicht so geplagt, dass er nicht einmal mehr die Messe lesen konnte. Aber er konnte schreiben, und seine wunderbaren Geschichten hatten ungeheuren Erfolg. Ich habe sie verschlungen!

Sie waren bei Kriegsende elf, müssen sich also auch noch an einiges aus der Nazizeit erinnern …

Grieser – Ich wurde in Hannover geboren, als ich ungefähr drei war, übersiedelte die Familie nach Oberschlesien, wo ich bei der Großmutter aufwuchs. Für meine Mutter waren wir drei Buben zu viel, und meine Großmutter war gerade Witwe geworden. Sie war froh, dass sie jemand um sich hatte. Ich kam 1944 zu den „Pimpfen“ (10- bis 14-jährige Mitglieder des nationalsozialistischen Deutschen Jungvolks, Anm.) und bekam auch die entsprechende Uniform, die ich höchst ungern getragen habe. Nicht aus Widerstandsgeist, sondern weil ich unsportlich bis zum Exzess war. Die Aufmärsche, die wir mitmachen mussten, waren für mich etwas Entsetzliches. Darüber wurde in der Familie nicht gesprochen – im Gegenteil. Wir wurden zur Ordnung gerufen. Als einer meiner Brüder später die SA-Uniform meines Vaters entdeckte, habe ich mir dazu eine Geschichte zurechtgelegt. Mein Vater war Lehrer, er starb sehr früh. In der Familie hieß es immer, der Krieg habe seine Nerven ruiniert. Ich glaube eher, dass er mit der Mitgliedschaft in der SA eine Vorkehrung treffen wollte. Er war geisteskrank, kam auch immer wieder in eine Anstalt – vielleicht hätte er unter den Nazis gar keine Kinder zeugen dürfen. Meine Mutter hat dieses Thema immer weggeschoben und sagte nur: „Ich will darüber nicht sprechen.“ Leider konnte ich mit dem Vater auch nicht mehr über seine „Reiseberichte“ reden, die er über den Ersten Weltkrieg geschrieben hatte. Als ich seine Berichte über Ostpreußen fand, war ich wie elektrisiert! Die Reiselust habe ich offenbar von ihm.

Ihre Lektüren in der Schulzeit?

Grieser – Da begann ich schon mit Hermann Hesse. In Schneckenhausen bei Kaiserslautern, wo wir bei Verwandten untergekommen waren, hatte man mir im Sommer eine Kuh und eine Ziege zum Hüten anvertraut. Ich zog immer am Nachmittag los. Die Kuh ging brav hinter mir her, aber die Ziege lief in alle Höfe, und die Kinder lachten mich Stadtkind aus. Da hatte ich jedenfalls immer meinen Hermann Hesse bei mir. Ich bereitete mir auf der Wiese eine Ruhestatt, las Hesse und war in einer anderen Welt! Hesse war für mich eine wichtige Figur. Und wenn ich mich an einem Autor festbeiße, will ich alles haben. Später, als ich Geld hatte, habe ich sogar Aquarelle von Hesse gekauft. Das konnte man damals noch. Als ich für das Buch „Glückliche Erben“ den Sohn Heiner Hesse aufsuchte, zeigte mir dieser ganze Kisten mit Blättern seines Vaters. Ich habe mich nicht getraut, ihn auch nur um ein winziges Stück davon zu bitten. (lacht) Als es mir vor einiger Zeit nicht gut ging, bekam ich als Geschenk ein Buch mit dem ungefähren Titel „Hermann Hesse für Alte“. Ich habe ihn nach Jahrzehnten wiedergelesen, und er gefiel mir wieder, auch wenn einiges recht betulich ist.

Wie kamen Sie 1957 nach Österreich?

Grieser – Ich war reif für das Weggehen aus dem elterlichen Reich, ich wollte weg aus der Provinz. Auch München hat mir nicht gefallen. Ich habe in Münster studiert, und ein Professor riet mir: „Grieser, Sie müssen nach Wien!“ Das habe ich brav ausgeführt, und dann bin ich hier picken geblieben.

Damals war Wien noch ziemlich grau …

Grieser – Das habe ich nicht so empfunden. Ich kam ja aus Deutschland, wo alles viel ärger zerstört war. Ich ließ das Gepäck am Westbahnhof, ging die Mariahilfer Straße hinunter bis zu meinem Hotel am Hafnersteig und dachte – das ist doch eine tolle Stadt! Alles war intakt, es gab keine Ruinen – die autochthonen Wiener sind ja verwöhnt. (lacht)

Sie haben dann als Journalist gearbeitet.

Grieser – Ich war Kulturkorrespondent für Deutschland – vor allem für den Rundfunk, aber auch für eine Reihe von Zeitungen, wie die Frankfurter Rundschau oder die Badische Zeitung. Später, als die Bücher kamen, habe ich das reduziert, und zuletzt war ich ein so schlechter Korrespondent, dass man mich extra anrief: „Also, den Brecht morgen, den machen wir schon“, hieß es da vom Südwestfunk, und ich habe nicht einmal gewusst, welcher Brecht gerade in Wien gespielt ­wurde. (lacht)

Wie wurden Sie zum Buchautor?

Grieser – Ein Redakteur vom Südwestfunk sagte: „Hören Sie mal, wenn Sie ihre Geschichten noch ein bisschen ausbauen, dann könnte das doch ein Buch ergeben.“ Ich stimmte freudig zu, war aber voller Zweifel – mein Selbstwertgefühl ist nicht sehr hoch entwickelt. Vor allem wusste ich nicht, an wen ich mich wenden sollte. Ich habe auch den schweren Fehler gemacht, den junge Autoren oft begehen: Ich dachte, als total unbekannter Autor müsste ich mich wohl an einen ganz kleinen Verlag halten. Natürlich bekam ich keine Antwort! Auf der Frankfurter Buchmesse, zu der ich schon seit meiner Schulzeit immer fuhr, bekam ich dann den Tipp, zu einem großen Verlag zu gehen. Ich habe zuerst gedacht, ich höre nicht recht – von Peter Härtling, dem damaligen Verlagsleiter bei S. Fischer bekam ich dann sehr rasch die Antwort: „Wir machen das.“ Selbst wenn das Buch auf Klopapier gedruckt worden wäre – ich war über Wochen in einem Ausnahmezustand! In ausgewählten Buchhandlungen, in denen ich mich getraut habe, habe ich gefragt, ob man das Buch nicht vielleicht ans Fenster stellen könnte. Das schmale Taschenbuch stand dann wirklich in einer Auslage, und ich weiß nicht, wie oft ich das fotografiert habe. Noch etwas passierte: Als gerade die T-Shirt-Mode aufkam, produzierte der Fischer Verlag ein eigenes T-Shirt mit einem riesigen Logo des Verlages – den drei Fischen. Ich habe das pausenlos und natürlich mit der Absicht getragen, darauf angesprochen zu werden und erklären zu können, dass es um mein erstes Buch ging. (lacht)

Sie haben mit den Büchern gut verdient?

Grieser – Gut – in den 1980er/90er-Jahren war meine große Zeit. Die Vorabnutzung der Texte in deutschen Rundfunksendern war dabei auch wichtig – meine sonntäglichen Sendungen zwischen halb elf und elf wurden auch in der DDR empfangen. Bei manchen Büchern habe ich mit den Radiosendungen mehr verdient als mit den Büchern selbst. Mein Spitzentitel „Eine Liebe in Wien“ erlebte viele Auflagen, auch viele Taschenbuchausgaben. Als das Buch innerhalb weniger Wochen vergriffen war, habe ich mich einmal in einer befreundeten Buchhandlung genauer erkundigt. „Ja, Herr Grieser“, sagte man mir, „das ist doch ganz klar: Das Buch ist vor dem Muttertag erschienen!“ Damals kamen die lieben Kleinen noch in die Buchhandlung, wenn sie etwas für den Muttertag brauchten. Das Buch gelangte so auch in Kreise, die nicht meine Stammkundschaft waren.

Sie haben viele Bücher, aber keine Autobiografie und keinen Roman geschrieben …

Grieser – Autobiografisches ist über viele Bücher verstreut, und für ein ganzes Buch fehlt mir der lange Atem. Dafür braucht man drei Jahre, und da bin ich zu ungeduldig. Ich mag eher die kurze Distanz. Was den Roman betrifft – das kann ich nicht. Ich kann Ihnen aber eine Anekdote dazu erzählen. Nach ­einer Lesung in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur wollte der damalige Leiter Kurt Klinger, der mir sehr zugetan war, ein besonders schönes Schlusswort halten. Er sprach sehr melodramatisch und sagte dann: „Und wann, Herr Grieser, schreiben Sie Ihr erstes richtiges Buch?“ Sofort erhob sich Protest aus dem Publikum, ich musste mich dann selbst gar nicht aufregen. (lacht) Die Frage wurde später nicht mehr gestellt, aber es gab natürlich diese Art von Purismus. Später ließ man mich machen, was ich kann.

Umgekehrt gefragt – welches Projekt ist Ihnen nicht gelungen?

Grieser – Wenn es Schwierigkeiten gab, hat mich das nicht gehindert. Ich war immer fest entschlossen, eine Sache durchzuboxen. Es gab natürlich auch Kapitel einzelner Bücher, die nicht zustande gekommen sind. Zum Beispiel bei Leonhard Frank, der heute wahrscheinlich vergessen ist, und dessen Buch „Links wo das Herz ist“. Dessen Frau Charlotte Frank hatte ich für ein Kapitel in „Musen leben länger. Begegnungen mit Dichterwitwen“ vorgesehen. Ich fuhr zu ihr nach München, und wir unterhielten uns wunderbar. Es war aber immer ein Aufpasser dabei, ihr Lebensgefährte, einer, der mit dem Millimetermaßband alles abmaß, was ich sagte. Er wollte dann auch, was ja grundsätzlich legitim ist, den Text gegenlesen. Mein Text kam dann wie eine Schularbeit mit Noten rechts am Rand zurück. Mir war die Witwe Frank doch nicht so viel wert, und ich habe das schließlich gelassen.

Das war die schwierigste Witwe?

Grieser – Die schwierigste war Gertrud Wagner. Die gehörte nicht zu den Dichterwitwen, sondern zu den Witwen aller Art wie Olga Kokoschka oder Frau Furtwängler. Gertrud Wagner war die Witwe von Wieland Wagner, dem Enkel und Erneuerer von Bayreuth, eine bayerische Tänzerin. Diese Frau wurde als Künstlerin zu Unrecht ins Eck gedrängt, später kam noch eine persönliche Katastrophe hinzu. Wieland Wagner verließ sie und wandte sich der Sängerin Anja Silja zu, die die rechtmäßige Frau Wagner aus ihrer Villa auf Sylt rausgeschmissen hat. Diese Frau wollte ich unbedingt kennenlernen. Ich bekam ihre Nummer und fuhr nach vielen Telefonaten nach Sylt, wo es wahnsinnig kalt war. Da stand ein wunderbares Haus, ganz modern, viel Glas, aber es rührte sich nichts. Ich ging um das Haus und sah dann einen vollkommen erstarrten Menschen in einem Fauteuil sitzen. Das war sie. Ich klopfte. Sie reagierte nicht. Irgendwann wachte sie auf und schaute. Sie ließ mich rein, zuerst nur ins Vorzimmer, wo ich einer Prüfung unterzogen wurde, ob ich überhaupt tauge. Als sie merkte, dass ich Wagner intus hatte und weil sie mich vermutlich vertrauenerweckend fand, kippte das Ganze ins andere Extrem. Sie legte dann los, sodass ich mit meinen Notizen gar nicht mehr nachkam. Kaum war ich wieder in Wien, erhielt ich schon ein Telegramm, das mit den Buchstaben „SOS“ begann …

Sie hat alles abgestritten und widerrufen?

Grieser – Mehr oder minder. Nach Beratung mit meinem Anwalt habe ich das trotzdem im Verlag in Druck gegeben. Ich habe natürlich gezittert, aber es ist nichts passiert. (lacht)

Sie haben in Ihrem Leben interessante Menschen gesammelt. Haben Sie einen Unterschied zwischen berühmten und normalen Menschen gemacht?

Grieser – Das kann man so sagen. Deshalb wollte die Nationalbibliothek auch die Korrespondenz aus meinem Vorlass haben. Was die Unterschiede betrifft – für mich haben natürlich immer die Namen gezählt. Das muss jetzt nicht für alle Leser:innen passen, und bei zwanzig Kapiteln kann man ja auch sagen, das interessiert mich nicht. Für mich selbst waren alle interessant. Die Ergiebigkeit war unterschiedlich – manche haben nicht richtig den Mund aufgemacht, und manchmal musste ich auch ein bisschen Gewalt ausüben, aber keine körperliche, wie Sie sich vorstellen können. Zu Frau Tucholsky fuhr ich an den Tegernsee, klopfte einfach am Gartentor und sagte, ich möchte nur ­einen Blick ins Haus werfen. Ich wurde eingelassen und bekam später ein Telegramm von ihr, in dem sie mich dafür bewunderte, dass ich es geschafft hatte, sie so einfach reinzulegen. (lacht)


Kommen wir zu Ihrem Buch „Geliebte Ukraine“. War es Ende der 1970er-Jahre, zur Hochzeit des Kalten Krieges, nicht schwierig, in die Sowjetunion zu reisen?

Grieser – Als ich zum ersten Mal für die Geschichte über Georg Trakl nach Lemberg fahren wollte, der in dieser Gegend sein berühmtes Gedicht „Grodek“ schrieb, gab es ein Missverständnis. Ich war zu blöd, einfach zu sagen „nach Lwow oder Lviv“, wie die Stadt heute heißt. Ich habe mich im Reisebüro darauf verlassen, dass man Lemberg kennt – es gab aber nur ein Lemberg bei Bremen. (lacht) Man durfte bei diesen Reisen in den Osten nicht auffallen, hatte als Tourist einen kleinen Spielraum, und ich war ein Tourist mit besonderen Interessen. Am wenigsten waren das politische Interessen – vielmehr war ich davon besessen, die jeweiligen Schauplätze zu finden. Alles andere war Beiwerk. Es mag zynisch klingen, aber die Schwierigkeiten, die einem im Ostblock gemacht wurden, waren den Geschichten zuträglich, die ich schrieb. In Amerika war das Gegenteil der Fall: Du willst dich an John Steinbeck oder Thomas Wolfe heranarbeiten, und es wird dir alles serviert. Für dich als Autor bleibt nicht viel übrig. Insofern war der Ostblock viel interessanter. Du wurdest verdächtigt, Spionage oder sonst etwas zu treiben – wofür ich ohnedies zu dumm gewesen wäre. Es ist mir nie wirklich etwas passiert. Nur einmal wurde ich auf Zypern für ein paar Stunden verhaftet, weil ich mich an einer Mole herumtrieb. Zum Ukraine-Buch muss ich noch sagen – es war nicht geplant, es entstand aufgrund der aktuellen Umstände. Als der Krieg in der Ukraine begann, fiel mir ein, da warst du doch schon. Was die Unterstützung der Ukraine betrifft – da steht Österreich in der gesamten EU ziemlich weit hinten, an vorletzter Stelle vor Bulgarien. Da sind wir nicht gut. Bei einer Lesung sprach mich eine Leserin an, eine Bildungsbürgerin wie ich selbst. Sie sagte: „Herr Grieser, gibt’s wieder was Neues? Ja, was denn?“ Als ich das Thema nannte, meinte sie nur: „Na, Jessas – das ist aber kein Reiseland!“ Man kann doch nicht die ganze Welt und schon gar nicht dieses geschundene Land als Badestrand sehen!

Wie viele Bücher haben Sie in Ihrem Leben gelesen?

Grieser – Ich habe immer gelesen und lese noch immer. Ich kann gar nicht einschlafen, ohne zu lesen. Es waren unendlich viele Bücher, eine Zahl kann ich aber nicht sagen. Was die Sache heikel macht, denn ich kaufe die Bücher auch und habe eine Unmenge zuhause. Ich lasse viel Geld in Buchhandlungen und brauche die Buchhandlungen auch. Was ich nicht mache – ich lese die Bücher nicht öfter – rerum novarum cupidus.

Wenn Sie immer etwas Neues brauchen – wie verhält es sich mit Klassikern?

Grieser – Ich traue mir nicht zu sagen, dass ich Stifter wirklich lese, aber ich habe eine große Zuneigung zu Stifter. Was ich verschlinge, ist Sachliteratur, weil ich Wissen für meine Geschichten ansammle. Joseph Roth ist einer meiner großen Lieblinge, ich schmücke mich auch gerne mit Marcel Proust. Aber das läuft dann schon unter der Bezeichnung „Biografisches“ – bei Proust gibt es ja laufend Neues. Was immer schwieriger wird, das sind die Briefe. Ich habe ganze Briefsammlungen angekauft. Für künftige Generationen wird das schwierig sein, weil es keine Briefe mehr gibt.

Sie haben einmal gesagt, Sie können nicht nichts tun …

Grieser – Das lässt nach. Ich bin ein emsiger Typ, der heute schon eine ungefähre Vorstellung haben muss, was morgen am Programm ist. Das war früher von sieben bis zehn Uhr, jetzt von zehn bis zwölf. Ich muss wissen, was unterzubringen ist. Dann kommt das Mittagessen bei meinem Partner und begnadeten Koch Schi. Ich trinke ein Achtel Weißwein, abends in großen Zügen Roten. Dann bin ich müde, und man kann von mir nichts mehr haben, nur noch lesen.

Woran schreiben Sie?

Grieser – Es kommt nichts mehr. Ich schreibe nicht mehr. Man macht mir das sogar zum Vorwurf, weil ich doch versprochen hätte, dies und jenes noch zu machen. Dass manche Leute darin einen Treuebruch sehen, ist schon recht gewöhnungsbedürftig. Ich korrespondiere. Die meiste Post, die ich bekomme, sind Spendenaufrufe und Bankauszüge. Heute ist der Großteil der Korrespondenz ins Internet verlagert. Ich mache das anders – ich schreibe mit der Hand einen Brief, scanne ihn und schicke ihn dann per E-Mail.

Haben Sie in Ihrem Schreiberleben etwas versäumt?

Grieser – Durch mein biografisches ­Schreiben ist viel ins Hintertreffen geraten, was auch Folgen hat. Im Gegensatz zu meinem Freund Norbert Leser, der sich mit den letzten Dingen wirklich beschäftigt hat und mir auch vorhielt, dass ich diesbezüglich säumig bin – bei mir ist das in der vielen Arbeit untergegangen. Die letzten ­Dinge haben mich bis jetzt noch nicht erreicht.

800px Dietmar Grieser Buchmesse Wien 2018 (c) C Stadler Bwag
(c) C. Stadtler/Bwag
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