„Die Schwerkraft der Verhältnisse“ ist Ö1 Buch des Monats im Mai

Marianne Fritz‘ atemberaubender Roman ist das Ö1 Buch des Monats. Erschienen ist das Buch bei Suhrkamp.

Drei, respektive fünf Figuren stehen im Zentrum: Berta Schrei, geborene Faust, der knapp vor Kriegsende gefallene Musiklehrer Rudolf, mit dem Berta ein Kind hat; Wilhelm Schrei, Rudolfs Kriegskamerad, der Berta die Todesnachricht überbringt und diese dann heiratet und ebenfalls ein Kind mit ihr zeugt; und schließlich ist da Wilhelmine, Bertas Freundin, die Wilhelm ehelicht, nachdem Berta ihre Kinder umbringt und in der Psychiatrie landet. Die spröde Mixtur aus verqueren Wahlverwandtschaften, Reigen und Volksstück á la Ödön von Horvath spielt zwischen 1945 und 1963 in der Stadt „Donaublau“: einundvierzig knappe Kapitel mit rasanten zeitlichen Sprüngen.

Marianne Fritz erzählt gleichsam aus verschiedenen Perspektiven – einmal der einen, einmal einer anderen Figur zugeneigt, rücken diese wie in einem Schachspiel systematisch vor, um im Krebsgang der Erzählung die ganze Schwerkraft der Verhältnisse zu entfalten.

Eine geradezu unerhörte Geschichte

Anhand immer rascher erfolgender Rückblicke in die Vorgeschichte der Katastrophe gelingt es Marianne Fritz, einen mächtigen, geradezu wuchtigen epischen Strom zu erzeugen, der bald beängstigende Dimensionen erreicht. Ihr stakkatoartiges Erzählen wurde oft mit James Joyce verglichen, bleibt dabei aber immer glasklar und vermeidet jegliches Pathos. Sie beherrscht die Techniken der literarischen Moderne und setzt sie ein, um eine Tiefenbohrung in die österreichische Mentalitätsgeschichte der Nachkriegsjahre vorzunehmen. Später, in ihrem großen Zyklus „Dessen Sprache du nicht verstehst“, treibt sie die formale Radikalität noch weiter.

Marianne Fritz motiviert das Verbrechen des Kindermords nicht im eigentlichen Sinn, es gelingt ihr aber, aus den vielen Einzelstücken ihres Erzählens eine kompakte Einheit zu erschaffen, was die gute Lesbarkeit der „Schwerkraft der Verhältnisse“ erst ermöglicht. Genauer gesagt: es handelt sich um eine atemberaubende, geradezu unerhörte Geschichte. Wie immer man dieses Buch interpretieren mag – es stellt in sich eine Art Mythos dar: Vieldeutig schillernd, voll düstrer Verhängnisse, geschrieben mit einem untrüglichen Gespür für Komposition und ebenso untrüglichem Blick auf desolate und erniedrigende soziale Verhältnisse.

Kurz: „Die Schwerkraft der Verhältnisse“ von Marianne Fritz gehört zum Düstersten aber auch zum Besten, was in der österreichischen Literatur nach 1945 hervorgebracht wurde. (Auszug aus der Jury-Begründung der Ex Libris Redaktion)

Verkündet und besprochen wurde der Siegertitel in der Ö1 Sendung Ex libris. Alle Infos zum aktuellen Ö1 Buch des Monats, und zu allen vorhergehenden Titeln, finden Sie unter oe1.orf.at/buchdesmonats.

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buchdesmonats 05 2023 c Ursula Hummel Berger
(c) Ursula Hummel-Berger
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