anzeiger 6/23 – Vom Staunen über den Großvater

Klemens Renoldner ist Schriftsteller, Literaturwissenschaftler, Fan der absurden Literatur, Dramaturg, Kenner der DDR-Literatur und Stefan-Zweig-Spezialist. Hier spricht vor allem über seine Verarbeitung der Erlebnisse seines Großvaters

Interview: Erich Klein

Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Klemens Renoldner wurde 1953 in Schärding am Inn geboren, heute lebt er in Wien. Er studierte an den Universitäten Salzburg und Wien Literatur und Musik. Von 1980 bis 1986 war er Dramaturg am Burgtheater, es folgten Engagements an den Münchner Kammerspielen, am Schauspielhaus Zürich, am Stadttheater in Bern sowie in Freiburg im Breisgau. Renoldner war Gründungsdirektor des Stefan Zweig Zentrums der Universität Salzburg, das er von 2008 bis 2018 leitete. Er ist Mitherausgeber der auf sieben Bände angelegten Edition Stefan Zweig – Das erzählerische Werk – Salzburger Ausgabe, die seit 2017 im Verlag Paul Zsolnay erscheint. Renoldner hat einen Roman, Erzählungen und zwei Bände mit gesammelter Prosa veröffentlicht, jüngst die „Geschichte zweier Angeklagter“ (Sonderzahl 2023) über das Schicksal seines Großvaters als politischer Häftling im Konzentrationslager Dachau.

Herr Renoldner, was waren die Bücher Ihrer Kindheit und Jugend?
Klemens Renoldner: Vor allem Märchen und Sagen aus Österreich, im Kinderzimmer gab es auch verschiedene Sammelbände mit Erzählungen und Gedichten, die ich sehr gerne hatte. Etwa von Vera Ferra-Mikura oder Christine Busta. Es gab Klassiker der Kinderliteratur wie die griechischen Sagen, Till Eulenspiegel, die Kinderbibel, auch ein bisschen Karl May. Ich habe ungefähr zehn Karl-May-Bände gelesen, was bei den achtzig oder mehr Bänden nicht sehr viel ist. Großen Eindruck auf mich machte ein Freund meiner Eltern, ein Priester, der uns auf seinem tragbaren Plattenspieler Karl Valentin, Georg Kreisler und Helmut Qualtinger vorspielte. Ich kann mich auch an eine Ausstellung über Dadaismus in Linz erinnern und den schönen Katalog mit Texten von Tristan Tzara, Hugo Ball und Ernst Jandl gab. Einige dieser Gedichte kann ich noch heute auswendig. Zum Beispiel „Seepferdchen und Flugfische“ von Hugo Ball: „tressli bessli nebogen leila / flusch kata / ballubasch / zack hitti zopp“ – und so weiter. Ich war von abseitiger, schräger und vor allem komischer und surrealer Literatur begeistert.

Diese Autoren spielten schon in Ihrer Jugend eine Rolle?
Renoldner: Da war ich schon in der Oberstufe in einem öffentlichen Gymnasium in Linz. Die unteren vier Jahre verbrachte ich in Kremsmünster, wo uns Adalbert Stifter als großes Vorbild präsentiert wurde.

Ist er dazu geworden?
Renoldner: Für mich erst spät. Meine Eltern haben immer über Stifter geredet, und schätzten ihn als einen der beiden oberösterreichischen Heiligen. Der andere war Anton Bruckner. In der Mittelschule fand ich Stifter extrem langweilig, kitschig und falsch. Ich lernte ihn erst sehr spät wirklich schätzen, und habe auch so ziemlich alles gelesen, auch „Witiko“. Bei Stifter gibt es ja nicht nur diese sentimentalische, aufklärerische Steigerung zum Humanen, Edlen, Schönen und Guten, es gibt auch viele Texte, die einen fast naturalistischen, direkten Ton haben. Da ist er ein ganz großer Schriftsteller.

Begeisterung für Literatur gab es schon in der Familie …
Renoldner: Ja, das kommt natürlich von zu Hause. Meine Eltern haben sehr viel gelesen. Mein Vater, der nach der Kriegsgefangenschaft russisch konnte, hat sehr viel zeitgenössische russische Literatur gelesen. Er war ein ständiger Gast in der Bibliothek. und es lagen immer stapelweise Bücher herum. Auch „Archipel Gulag“, Solschenizyns vierbändige Anklage gegen den Stalinismus. Hin und wieder kaufte der Vater aus Jux am Linzer Bahnhof die „Prawda“, las uns dann zu Hause daraus vor, und übersetzte es.

Gedichte haben Sie auch geschrieben?
Renoldner: Ja, Liebesgedichte natürlich. In der Oberstufe versuchte ich Stücke zu schreiben. Etwa über die bitteren Erfahrungen des Internats. Wichtiger aber war unser Schülertheater im Tagesheim der Jesuiten, dem „Studentenwerk“, kurz „Stuwe“ genannt. Vier Jahre lang spielte ich hier mittlere und vor allem kleinere Rollen. Unter Anleitung eines älteren Dramaturgen vom Landestheater inszenierte ich einmal auch selbst. Daher rührt meine Begeisterung für das Theater. Ich habe nach der Matura die Aufnahmeprüfung für die Schauspielklasse des Mozarteums in Salzburg gemacht und eigenartigerweise sogar bestanden. Allerdings brach ich das später wieder ab, und studierte Germanistik und Musikwissenschaft.

Wie kam es zur Dissertation über die DDR-Autorin Christa Wolf?
Renoldner: Es gab in Salzburg Walter Weiss, einen uns prägenden Professor der Germanistik, der eine Vorlesung über Literatur der DDR hielt. In seinem Seminar habe ich Mitte der 1970er-Jahre eine Arbeit über Christa Wolf geschrieben. So fing das an. Ich war befreundet mit Kollegen vom Kommunistischen Studentenverband KSV, wodurch sich 1975 die Möglichkeit ergab, mit einem Stipendium drei Wochen in die DDR zu fahren. Dort erlebte ich eine Lesung von Christa Wolf. Ich habe sie später auch persönlich kennengelernt. Es war eine euphorische Stimmung auf diesem Ferienkurs in Rostock, bei dem mein weiteres Interesse für DDR-Literatur entstand. Einige der damals geschlossenen Freundschaften bestehen bis heute. Ich lernte Franz Fühmann kennen, Volker Braun, Stephan Hermlin, Heiner Müller, Sarah Kirsch, auch Christoph Hein, die ich dann alle zu Lesungen nach Österreich eingeladen habe.

Hatten Sie keine Zweifel am politischen System der DDR, oder überwog die Sympathie?
Renoldner: Es gab eine Reihe sympathischer Sachen, die mich beeindruckt haben. Das Schlimme war umgekehrt, dass die Freunde, die wir in den folgenden Jahren besuchten, nicht ausreisen konnten. Ich habe dann sogar einmal in der DDR-Botschaft in Wien einen Antrag gestellt, ein oder zwei Semester in der DDR zu studieren. Das wurde abgelehnt. Ein Beamter der Botschaft sagte mir allerdings: „Ich glaube, Sie stellen sich das alles viel zu schön bei uns vor.“ (lacht) Ich war damals sicher sehr naiv und im Nachhinein auch mit vielen grauslichen Stasi-Geschichten konfrontiert. Es gibt auch eine Akte über mich, in der ich viele Briefe in Fotokopie wiederfand. Ich sollte eventuell als Auslands-IM angeworben werden. War aber, wie ich las, politisch „zu unverlässlich“.

Was machte die Faszination der DDR-Literatur aus?
Renoldner: Die an Literatur interessierten Menschen kannten sich in der internationalen Literatur unheimlich gut aus. Das wirkte sich auch auf die eigene Literatur des Landes aus, die viel politischer war als die Literatur subjektiver Befindlichkeit in Westdeutschland. Außerdem hatten sie ein ganz anderes Verhältnis zur deutschen Literaturgeschichte. Deshalb kommen Kleist und Büchner bei Volker Braun oder bei Heiner Müller vor. Sie haben ihre Tradition produktiv verwendet. Dass ich einmal mit Grillparzer etwas anfangen könnte, hätte ich damals bezweifelt. Anhand von Literatur wurden dort Geschichte und Zeitgeschehen analysiert, damit verschaffte man sich eine Identität. In Österreich hatte ich nichts Vergleichbares erlebt.

Sie waren über sechs Jahre Dramaturg am Burgtheater. Wie kamen Sie danach auf Stefan Zweig, mit dem Sie sich jahrelang beschäftigt haben?
Renoldner: Es gab in meiner Theaterlaufbahn einen Karriereknick. Wir hatten uns im Zürcher Schauspielhaus zerstritten, und ich kehrte nach Wien zurück, hatte aber keinen Job. Ich war verheiratet, musste zwei Kinder versorgen, und bekam das Angebot, für die Stadt Salzburg zu Stefan Zweigs fünfzigstem Todestag eine Ausstellung zu machen. Ich habe mir den Autor nicht über dessen erotische Novellen oder über seine Biographien erschlossen. In dieser Ausstellung, die ich 1992 mit Peter Karlhuber gestaltete, ging es vielmehr um seinen intellektuellen Kosmos: Judentum, Wiener Bürgertum, das Kultur- und Kunsterlebnis in Wien, seinen Pazifismus, seine Reisetätigkeit, die internationalen Netzwerke und natürlich das Exil.

Gerade von Zweigs sexuellen Nöten war vor einigen Jahren die Rede, seinem Exhibitionismus.
Renoldner: Es handelt sich dabei um ein Gerücht, das der Kunsthändler und Schriftsteller Benno Geiger in die Welt gesetzt hat. In seinen in Italien veröffentlichten Memoiren behauptet er, Zweig habe sich in verschiedenen Wiener Parks Mädchen nackt gezeigt. Diese Quelle ist ziemlich unsicher und unzuverlässig, auch wenn ich es für möglich halte, dass es diese exhibitionistischen Auftritte von Zweig gab. Es existiert keine Polizeiakte, es gab keine Verurteilung, und darüber hinaus keine weiteren Belege. Was man vielleicht sagen kann – Zweig war in seiner sexuellen Identität möglicherweise nicht sehr sicher.

Was sind die problematischen Schwachstellen bei Stefan Zweig?
Renoldner: Darüber wurde schon viel gesagt. Das Erste, was mir sofort einfällt: Er hat seine Kriegsbegeisterung im Herbst 1914, die in Aufsätzen und zahlreichen Briefe belegt ist, in „Die Welt von Gestern“ beschönigt. Er schreibt dort: Ich war vom ersten Tag an auf Seite der Pazifisten. Das ist ein schlechtes Gedächtnis, und wurde auch schon viele Male festgehalten. Für mich viel problematischer ist der Umstand, dass er sich im Exil mit entschiedenen Aussagen gegen das, was da gerade in Deutschland entstand, zurückhält und anfangs viel zu wenig deutlich Stellung bezieht. Er hat, wie übrigens auch Thomas Mann, noch bis 1935 gehofft, wieder in Deutschland publizieren zu können. Es hat mich auch immer schon amüsiert, dass er die Welt seiner Wiener Jugend vor 1914 verklärt, als er ein junger und nicht sonderlich erfolgreicher Schriftsteller war. Aus der Sicht seines gehobenen Bürgertums waren alle ständig nur im Theater, im Musikverein oder in der Oper. Das ist natürlich ein bisschen ein Kitsch, den er da erzeugte.

Vor allem war diese Kultur nicht imstande, Widerstand gegen die heraufziehende Barbarei zu leisten.
Renoldner: Ich glaube, genau das hat Zweig sehr deprimiert – er musste einsehen, dass er mit der Kulturbegeisterung, die einst sein Leben ausgemacht hatte, gegen den faschistischen Ungeist überhaupt nichts ausrichten konnte.

Was war der Grund für seinen Selbstmord?
Renoldner: Er war depressiv, fragte sich schon 1931 „Was kann jetzt noch kommen?“ Er war in Sorge, dass ihn seine Kräfte verlassen, und es nur mehr bergab gehen würde. Da war er gerade fünfzig! Mit Hitlers Machtergreifung 1933 war er politisch abgestempelt: als politischer Feind. Zweig wollte aber nie direkt mit Politik zu tun haben, und dachte immer, er könne die verschiedenen Positionen ausgleichen, er verstünde ja alle Seiten. Seine Welt und sein Lebensprinzip wurden zertrümmert.

Zweig hat auch den antisemitischen Bürgermeister Karl Lueger „verstanden“.
Renoldner: Das ist wirklich schwer zu verstehen. In „Die Welt von Gestern“ sagt er, er sei in seinem privaten und in seinem Berufsleben als Jude nie in irgendeiner Weise behindert und belästigt worden. Bei diesen Aussagen kann man nur stutzig werden, weil wir aus Zweigs Briefen wissen, dass es sich ganz anders verhielt. Zweig wurde antisemitisch angepöbelt, und er beklagt sich 1933 auch bitter darüber, dass er in Salzburg nicht mehr leben könne, weil „alles nationalsozialistisch“ sei, und man niemandem trauen dürfe. Acht Jahre später, 1941, als er seine Erinnerungen schrieb, war keine Rede mehr davon. Dahinter steckt ein bestimmtes Kalkül. Ich glaube, er wollte sich nicht als Opfer begreifen, obwohl er ein Verfolgter des Nationalsozialismus war.

Kommen wir zu Ihrem neuen Buch „Geschichte zweier Angeklagter“. Ihr Großvater, ein Linzer Polizist, kam aufgrund von Denunziation durch einen Vorgesetzten ins Konzentrationslager Dachau. Nach dem Krieg wurde dieser Nazi-Denunziant von einem österreichischen Volksgericht verurteilt und später freigesprochen. Warum verknüpfen sie die beiden Geschichten?
Renoldner: In unserer Familie gibt es ein siebzigseitiges Manuskript meines Großvaters über seine Untersuchungshaft in Linz von März bis September 1938. Er schrieb es Anfang der 1950er-Jahre, ich kannte die Geschichte natürlich. Erst viel später habe ich erfahren, dass es auch einen Prozess gegen diesen Vorgesetzten gab. Ich steckte dann alle Energie in die Aufarbeitung dieses drei Jahre dauernden Prozesses und die Erkundung des Umgangs von Nachkriegs-Österreich mit diesen Dingen. Kurz gesagt: Warum ist die Entnazifizierung gescheitert? Nach den anfänglich sehr harten Bestimmungen der Alliierten und der ersten österreichischen Verfassung wurde die Verfolgung ehemaliger Nationalsozialisten immer mehr aufgeweicht. Schon im Dezember 1945 beginnt in den österreichischen Zeitungen eine unglaubliche Polemik gegen die Siegermächte: Man sollte den „kleinen Nazi“, der nur ein kleines Parteimitglied war, endlich in Ruhe lassen. Die Regierung übernimmt diese Argumentation allmählich. Es war aufregend, den ganzen Prozess zu verfolgen, bei dem rund siebzig Zeugen gehört wurden. Dann gibt es dieses strenge Urteil – der fanatische Nazi wurde zu vier Jahren schweren Kerkers verurteilt. Dessen Anwalt gelang es aber, seinen Mandanten ein Jahr später freizubekommen. Grotesk, obwohl alle seine NS-Aktivitäten bekannt waren, fehlte dem Gericht als Beweis das NSDAP-Parteibuch. Die Pointe dabei: Amerikanische Bomben hatten das Haus zerstört, in dem es hinterlegt war. Zuletzt stand der Angeklagte als völlig unbescholtener Mann da und mein Großvater wurde von alten Nazis auf der Straße verspottet. Das war für mich unfassbar. Die Energie fürs Schreiben bezog ich auch aus meinem Zorn und der Empörung darüber, wie dieser miese Typ mit seinem konsequenten Programm aus Lügen und Vertuschen Erfolg hatte.

Der Großvater ist keine ganz einfache Figur ,und scheint sich aller moralischen Beurteilung zu entziehen.
Renoldner: Biographische Forschung versucht oft Menschen reinzuwaschen oder zu schützen, und dafür gibt es allerlei Tricks. Ich beschreite einen anderen Weg. Bei den Befragungen in der Untersuchungshaft und am Ende, im Gespräch mit der Schwester, sagte der Großvater ganz klar: Ich bin ein Beamter, ich musste das und das tun. Er sagte auch ausdrücklich, wenn ich im März 38 auf die neue Verfassung des Deutschen Reiches eingeschworen worden wäre, dann hätte ich vermutlich entsprechend gehandelt. Im Prozess wird das auch deutlich: Er war ein Beamter, der seine Pflicht erfüllen wollte. Sein Pech war, dass er davor die illegalen Nazis konsequent verfolgt hatte. Er hat deren Versammlungen aufgelöst, Druckmaschinen beschlagnahmen lassen und Fahnen heruntergerissen. Er nahm seinen Dienst sehr ernst, und die Nazis waren verboten. Er war eben sehr gewissenhaft. Das haben ihm die Nazis dann ordentlich heimgezahlt. Ich glaube, darin besteht die Spannung des Buches. Wenn er nur ein armes Opfer eines Bösewichts gewesen wäre, wäre die Geschichte weniger interessant gewesen.

Haben die Dichter und Schriftsteller mehr Wahrheit auf ihrer Seite als die Historiker?
Renoldner: Beide, je nach dem. Ich wollte nicht zwei Biographien vorstellen. Ich konzentriere mich vielmehr auf kleine Ausschnitte ihres Lebens. Es geht um die Jahre 1938/39 und dann 1946 bis 1949. Auf einer Seite steht ein eher psychologischer Bericht, das Innenleben des Großvaters in seiner Haft. Die andere Lebensgeschichte wird anhand der Prozessakten abgehandelt. In einem dritten Kapitel wird über die Ereignisse aus späterer Sicht gesprochen. Das steht stellvertretend für unseren heutigen Blick. Ich selbst konnte den Großvater nicht mehr fragen, ich war dreizehn als er 1966 starb. Das Gespräch mit seiner Schwester ist fiktiv, beruht aber auch auf dokumentarischem Material und Informationen. Ich habe eine Instanz benötigt, um nochmals von außen auf die Geschichte schauen zu können. Eine Frage war etwa, warum erzählt der Großvater nichts über Dachau? Er sagte tatsächlich, er habe der SS versprochen, nie etwas darüber zu erzählen, was dort geschah. Darauf sagt die Schwester: „Spinnst du jetzt komplett? Das ist doch völlig irrelevant, was du irgendeinem SSler 1939 versprochen hast!“ Er bestand auf seinem Versprechen. Es gebe ja genügend Bücher und dokumentarisches Material darüber, was die Häftlinge dort erlebt hatten. Mein Vater erzählte, dass der Großvater nicht einmal seiner eigenen Frau berichtet habe, wie er dort verprügelt und getreten wurde. Er sagte immer nur: „Du kannst dir gar nicht vorstellen, was dort geschah.“ Eine Wendung, die er immer wieder benützte, war: „Es war ein himmelschreiendes Unrecht!“ Und: „Wenn ich das erzähle, glaubt sowieso keiner, wie irgendwelche jungen SSler ihre Opfer so sehr verprügelten, dass sie ohnmächtig wurden.“ Ich habe in meiner Erzählung eine Instanz benötigt, die ihn noch einmal von außen zeigt, und wir sehen einen politisch naiven Menschen, der seine Pflicht erfüllen will. Das kann man vermutlich von seinem sozialen Aufstieg her erklären.

Woher stammt er eigentlich?
Renoldner: Er war das zwölfte Kind einer armen Bauernfamilie aus dem Innviertel, und kam als Hilfsarbeiter nach Linz. Er hatte acht Jahre Volksschule besucht, die Schulpflicht absolviert. Beim Schachermayer wickelte er Schrauben und Nägel in Zeitungspapiertüten, und so weiter, erledigte also die primitivsten Arbeiten. Im Ersten Weltkrieg kam er zum Militär, danach meldete er sich zur Gendarmerie, so kam er in den Staatsdienst. Für ihn war das ein großer sozialer Aufstieg. Er heiratete, hatte sieben Kinder und eine schöne Wohnung – „er hat es zu etwas gebracht“. Er war pflichtbewusst, sicher auch autoritär und patriarchalisch, ganz nach alter Schule. Ich weiß nicht, ob er die Kinder geschlagen hat, jedenfalls herrschten daheim Zucht und Ordnung. Natürlich legte er 1934 auf die neue Verfassung seinen Amtseid ab. Ich weiß nicht, was er im Februar 1934 machte. Darüber weiß ich nichts, auch in seinem Nachlass findet sich dazu nichts.

Was hat Sie an seiner Geschichte am meisten erstaunt?
Renoldner: Er hatte mit diesen Naziidioten viele schreckliche Dinge erlebt, trotzdem sagte er beim Gerichtsverfahren zweimal: „Ich bitte um ein mildes Urteil für den Angeklagten.“ Die religiöse Prägung war für den Großvater offenbar eine große Stütze, sowohl während der Haft in Linz und auch im Konzentrationslager. Und was mich noch erstaunte, dass er tatsächlich nichts über Dachau schrieb. Er fuhr jedes Jahr zum Treffen der Lagergemeinschaft ehemaliger Häftlinge, wollte die Leute offenkundig wieder sehen, aber er schrieb nichts darüber. Vielmehr sagte er: „Ich bin dankbar, dass mir diese Prüfung auferlegt wurde. Ich habe für mein weiteres Leben sehr viel daraus gelernt.“ Das hält man nicht mehr aus: Man kann doch nicht sagen: „Danke, dass ich ins Konzentrationslager gekommen bin.“

Was geschah mit dem Großvater, nachdem er aus Dachau entlassen worden war?
Renoldner: Er hat bis 1945 in Linz bei einer Krankenversicherung gearbeitet, die Hälfte des Lohnes musste er strafweise dem Staat abliefern. Aber er war zuhause bei der Familie, und verdiente ein bisschen Geld. Nach Kriegsende wurde er rehabilitiert, und zum Oberst der Gendarmerie befördert. Bis zu seiner Pensionierung war er dann Sicherheitschef für das Mühlviertel, der sowjetischen Besatzungszone in Oberösterreich. Alles was nach „NS-Wiederbetätigung“ aussah, wurde von ihm streng verfolgt.

Selbstredend (c) Tschavoll
(c) Nini Tschavoll
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