anzeiger 2-24 – Ich will nichts ausschließen

Für den Schriftsteller Vladimir Vertlib ist die Welt ein völlig irrer Ort. Aber er lebt gern hier und schreibt darüber Romane. Nach dem Motto: Je bizarrer die erfundene Geschichte, desto realistischer wirkt sie.

Interview: Erich Klein.

Vladimir Vertlib wurde 1966 in Leningrad, damals noch UdSSR, geboren. 1971 emigrierte seine Familie über Italien, Israel, die Niederlande und die USA nach Österreich. Seit 1993 lebt Vertlib in Salzburg und Wien. Von 1984 bis 1990 absolvierte er ein Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien, seit 1993 ist er freiberuflicher Schriftsteller. Er erhielt zahlreiche Preise, zuletzt den Preis der Stadt Wien für Literatur (2023). Seit seinem literarischen Debüt mit der Erzählung „Abschiebung“ (1995) erschienen neun Romane, darunter „Zebra im Krieg“ (2022) und jüngst „Die Heimreise“ (2024) im Residenz Verlag.

Herr Vertlib, die ersten Bücher, die Ihnen vorgelesen wurden oder die Sie selbst gelesen haben?

Vladimir Vertlib – Kinderbücher russischer Kinderbuchautoren. Ganz besonders in Erinnerung geblieben sind mir die Erzählungen von Puschkin, meine Mutter hat sie mir vorgelesen. Auch Gogols Petersburger Erzählungen, die für ein Kind allerdings schwierig sind. Wie soll man sich vorstellen, dass eine Nase mit einer Postkutsche davonfährt, zum Besitzer zurückgebracht wird und wieder anwächst? Dann hat es Jugendromane von Autor:innen gegeben, deren Namen ich längst vergessen habe. Großmutter hat sie mir aus Russland geschickt. Kleine Sachbücher über das alte Rom oder über das alte Griechenland auf Russisch. Sie habe ich sehr gern gelesen. Ich mochte auch Kriegsgeschichten, natürlich sehr propagandistisch, aber gut geschrieben – Geschichten über Kinder, die in der Besatzungszeit in Belarus lebten und gegen die Deutschen kämpften.

Ihre Eltern emigrierten aus der Sowjetunion, als Sie fünf waren. Blieb Russisch während der Emigration durch verschiedene Länder Ihre zentrale Sprache?

Vertlib – Ja, ungefähr bis ins Alter von sechzehn. Dann begann Deutsch das Russische zu verdrängen, heute steht Deutsch an erster Stelle. Ich habe mit meinen Eltern zu Hause Russisch gesprochen, sie waren die primären Ansprechpersonen. Ich hatte wenige Freunde, ich war ein Außenseiter.

Ihr Weg führte Sie in die USA, nach Israel und Holland. Warum haben sich Ihre Eltern für Österreich entschieden?

Vertlib – Das hatte teilweise rechtliche Gründe. Meine Eltern haben versucht, in die USA oder nach Holland auszuwandern, aber das hat nicht geklappt. In Österreich ging das damals leichter, weil Österreich in der Kreisky-Zeit noch relativ liberal und offen war und viele Gastarbeiter:innen aufgenommen hat. Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen. Wir kamen zweimal nach Österreich: zuerst Anfang der 1970er-Jahre nach Bad Schönau in ein Sammellager für russische Juden. Das wurde nach einem Terroranschlag gesperrt. In Israel konnten meine Eltern nicht heimisch werden. Ab 1981 waren wir dann durchgehend in Österreich.

Wann wurde aus dem Leser ein Schreibender?

Vertlib – Ich habe schon als Elfjähriger manchmal kleine Geschichten geschrieben, aber mehr zum Spaß. In den USA habe ich begonnen, Tagebuch zu führen. Zuerst auf Russisch, dann auf Englisch, und als meine Eltern und ich nach Österreich zurückkamen, wechselte ich nach einiger Zeit ins Deutsche. Das Tagebuch wurde zu einer Sammlung von Kurzgeschichten. Ich stellte fest, dass es für mich spannend ist, die Welt schreibend zu erkunden, manche Dinge zu erfinden und in mir zu Ende zu denken, wie sie sein könnten oder wie ich mir vorstelle, dass sie vielleicht wirklich sind. So bin ich beim Schreiben geblieben.

Sie haben aber Volkswirtschaft studiert …

Vertlib – Das war damals ein Kompromiss. Mir war klar, dass jemand mit einem Wirtschaftsstudium gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat. An und für sich wollte ich ja schreiben. Aber ich habe das Wirtschaftsstudium durchgezogen. Ich war ein braver Sohn. Meine Eltern sagten mir, sie würden mich bei allem, was ich mache, unterstützen, egal ob ich Germanistik, Slawistik oder Anglistik studieren wolle. Ich solle mir aber überlegen, ob ich womöglich Taxifahrer mit Diplom werden würde. Ich entschied mich dann vorerst für den Brotberuf und fand auch relativ rasch einen Job.

Es heißt, man weiß erst nach dem zweiten Buch, dass man Schriftsteller ist. Wie war das bei Ihnen?

Vertlib – Das war tatsächlich erst nach dem zweiten Buch der Fall. Als mein erstes Buch „Abschiebung“ 1995 erschien, dachte ich zwar kurzzeitig, jetzt bin ich Schriftsteller. Aber ich habe bald gemerkt, dass ich davon nicht leben kann und von anderen auch nicht als Schriftsteller wahrgenommen werde. Es war ein Achtungserfolg, aber noch zu wenig. Ich habe dann diverse Jobs gemacht und beim Einchecken in einem Hotel „Volkswirt“ geschrieben. Das zweite Buch erschien in einem besseren Verlag, bekam Preise, und dann war klar, dass ich Schriftsteller bin.

Russland spielt in Ihren Büchern immer wieder eine Rolle. Wie passen Ihre Kindheitslektüren und das gegenwärtige Russland noch zusammen?

Vertlib – Diese beiden Welten haben immer etwas miteinander zu tun, weil sich erschreckenderweise so wenig geändert hat. Das ist ja das Schlimme! Ich bin mit dem Gefühl aufgewachsen, es gibt eine russische Hochkultur mit wunderbaren Büchern, Literatur, Kunst, Musik und auch wunderbaren Menschen. Das haben mir meine Eltern vermittelt. Gleichzeitig gibt es ein furchtbares Terrorregime, ich meine jetzt das sowjetische Regime. Und es gibt sehr viele primitive, ignorante, dumpfe Menschen, die nichts anderes kennen als dieses repressive System, und die darin voller Gleichmut und Apathie leben, ihr Leben hinnehmen ohne jeglichen Wunsch, etwas zu ändern. Mir ist natürlich klar, dass es das im Prinzip in jedem Land gibt. Es gibt in jedem Kulturkreis auch dumpfe Ignoranz, Mitläufertum, Dummheit, Bösartigkeit und Infamie. Selbst Massenmorde und Vertreibungen gibt es praktisch in der Geschichte jedes Landes. Nehmen Sie zum Beispiel die Niederlande mit ihren ungeheuerlichen kolonialen Verbrechen in Indonesien. Man kann also nicht einfach sagen: Hier ist der fortschrittliche Westen und dort der dumpfe Osten. Die Janusköpfigkeit der Welt war mir schon als Kind klar. Ich bin mit dieser Ambivalenz und diesen Geschichten aufgewachsen. Ich habe ja gewusst, wäre ich mit meiner jüdischen Herkunft in einem Land wie Österreich nur einundzwanzig Jahre früher auf die Welt gekommen, hätte man mich als Baby in den Ofen geworfen. Für mich ist das Schlimme nicht, dass ich das Früher und das Jetzt nicht zusammenbringe, sondern dass sich so wenig verändert hat. Ich habe Anfang der 1990er-Jahre gehofft, dass Russland und die Staaten der ehemaligen Sowjetunion zumindest einen ähnlichen Weg beschreiten wie der ehemalige Ostblock in Europa. Aber aus Russland ist nie ein Tschechien geworden und kein Polen, nicht einmal ein Ungarn. Es wäre schon toll, wenn Russland auf dem Niveau von Rumänien oder Bulgarien wäre. Heute muss ich sagen, sogar Albanien hat Russland überholt. Das ist das Erschreckende, dass es diese Kontinuität an Infamie, Ignoranz und dumpfer Gleichmut gibt. Daneben mag es auch die russische Hochkultur geben, aber in den letzten Jahren haben mehr Leute das Land verlassen als jemals zu Sowjetzeiten!

Schon Ihr vorletzter Roman „Zebra im Krieg“ hatte den Krieg zum Gegenstand, allerdings ohne explizite Nennung des Ortes …

Vertlib – Ja, weil ich sehr viel zum Ukraine-Krieg recherchiert habe. Das Jahr 2022 ist den Leuten in Österreich irgendwie „eingefahren“ und sie haben verstanden, womit und mit wem sie es zu tun haben. Die Besetzung der Krim 2014 ging noch vorüber, man hat Putin auch danach in Österreich empfangen. Herr Leitl von der Wirtschaftskammer hat ihn hofiert. Ich habe damals gar nicht verstanden, warum sie das gemacht haben.

Zum Beispiel wegen der unzähligen Charterflüge mit russischen Wintertouristen, die damals in Salzburg täglich gelandet sind.

Vertlib – Ja, aber das darf man nicht machen. Mir ging der Krieg sehr nahe, schließlich komme ich ja aus dem Land. Meine Vorfahren stammen aus dem Südosten von Belarus – im Februar 2022 das Aufmarschgebiet der russischen Truppen, die dann auf Kiew marschiert sind. Dort gab es Widerstandskämpfer, die Weichen und Oberleitungen der Eisenbahn gekappt haben. Das waren Helden, die man, wären sie erwischt worden, in Belarus an die Wand gestellt oder an einem Laternenpfahl aufgehängt hätte. Der Krieg war für mich sehr präsent. Es war für mich wichtig, einen Roman über die Zustände an der Peripherie Europas zu schreiben. Das Buch spielt nicht explizit im Donbas, es gab auch den syrischen Bürgerkrieg und die Flüchtlingskatastrophe. Es brodelt an den Rändern Europas, nur wir leben so, als wären wir mitten im Auge des Orkans und bei uns sei es still.

Ihr neues Buch „Die Heimreise“ führt noch einige Tausend Kilometer weiter in den Osten, nach Kasachstan, zu einer Gruppe Studentinnen bei der Neulandgewinnung in der Steppe …

Vertlib – Es ist die Geschichte meiner Mutter, natürlich literarisch verfremdet. Es gibt auch sehr viel Erfundenes im Roman. Meine Mutter ist im Jänner sechsundachtzig geworden. Mir wurde klar, dass ich einige der Geschichten, mit denen ich aufgewachsen bin, und die sie mir erzählt hat, niederschreiben muss. Kasachstan und Russland bieten letztlich nur die Folie, um eine persönliche Geschichte einer jungen Frau zu erzählen. Ich wollte mit meiner Mutter noch einmal über diese Geschichten reden und ihr dieses Buch schenken. Außerdem dachte ich, dass es angesichts der aktuellen politischen Ereignisse in Russland wichtig sein könnte, die Mentalität dieses Systems zu beschreiben, das bis in die Gegenwart herüberreicht. Viele Leute fragen mich: Wie ist all das zu erklären? Wie soll man Russland verstehen? Was ist das für ein Land? Obwohl mein Buch in den 1960er-Jahren mit Rückblenden auf die Stalinzeit spielt, trägt es ein bisschen zum Verstehen bei. Wenn man es liest, kann man vielleicht ein bisschen besser begreifen, was heute dort passiert und warum achtzig Prozent der Bevölkerung Putin unterstützen, obwohl man sich an den Kopf greift und sagt: Hey, das kann doch nicht wahr sein!

Im Buch passieren ziemlich eigenartige Dinge, obwohl es nur um eine Reise aus Ostkasachstan nach Leningrad/Petersburg geht …

Vertlib – Das Buch ist auch ein bisschen Jules Verne, wobei Jules Verne gar nicht so bizarr war. Was ich beschreibe, sind teilweise erfundene, teilweise realistische Geschichten. Das Bizarre, scheinbar Abenteuerliche an diesem System ist leider nur allzu wahr, und je grotesker die erfundenen Geschichten, desto realistischer sind sie. Das ist das Infame, das Aberwitzige und völlig Abgründige an diesem System. Natürlich kann einem der Mund dabei offen stehen bleiben, aber mir passiert das nicht. Ich bin ja damit aufgewachsen, dass diese Welt ein völlig irrer Ort ist. Es lohnt sich trotzdem, auf der Welt zu leben. Aber ich habe kein Urvertrauen zu irgendwem. Ich vertraue niemandem außer Menschen, die ich persönlich gut kenne. Aber wenn man mich fragt: Vertrauen Sie den Österreichern? Glauben Sie, dass übermorgen eine Atombombe auf Wien runterfällt? Ich glaube das nicht. Es ist sehr unwahrscheinlich. Aber es ist nicht unmöglich. Wer hätte es vor fünf Jahren für möglich gehalten, dass Putin Kiew bombardiert? Nach all dem, was inzwischen passiert ist, halte ich alles für möglich. Ich habe mit der Schriftstellerin Tanja Maljartschuk gesprochen, und sie meinte, es könne durchaus sein, dass Putin eine Atombombe auf Warschau wirft, wenn die Ukraine den Krieg verliert. Ich halte das nicht für sehr realistisch, aber wer weiß. Hätte jemand für realistisch gehalten, was heute in der Ukraine passiert? Man kann nichts ausschließen. Selbst die schlimmsten Albträume können wahr werden. Ich habe immer schon mit diesem Gefühl gelebt.

Wobei das Skurrile und geradezu Schelmische in Ihrem Roman nicht zu kurz kommt …

Vertlib – Gerade die scheinbar absurden und aberwitzigen Geschichten sind oft die authentischen, und genau das macht auch die Geschichte dieses Landes aus. Wenn man die Geschichten einzelner Menschen hört, so ist das tragisch, aber diese Tragik ist dermaßen surreal, dass man darüber lachen muss. Andernfalls müsste man sich umbringen. Fast jedes tragische Ereignis hat irgendwo auch eine absurde und fast schon witzige Seite. Das findet sich auch in meinen anderen Büchern: In den tragischen Passagen schwingen oft der Humor und das Schelmische mit.

Wenn Sie Ihre Mutter durch diese Landschaft und durch diese Zeit reisen lassen, hat das etwas Ungeheures und Unvorstellbares an sich.

Vertlib – Das stimmt. Ich weiß jetzt nicht, wie ich darauf reagieren soll – ich kann das nur unterstreichen. Meine Mutter ist 1938 geboren, das war gerade der Höhepunkt von Stalins Terror und den Säuberungen. Wahrscheinlich hat sie schon alles irgendwie im Mutterleib gespürt, diese extreme Angst. Ein Onkel, der Bruder meiner Großmutter, wurde damals verhaftet, er kam dann im Lager um. Als sie auf die Welt kam, war das eine Zeit des absoluten Horrors. Daran kann sie sich nicht mehr bewusst erinnern, aber unbewusst kriegen wir ja alles mit. Der Körper merkt sich so etwas. Ihre ersten Erinnerungen stammen aus der Kriegszeit, Erinnerungen an den Hunger während der Blockade Leningrads. Als sie einmal kurz verschwunden war, dachten die Großeltern, sie sei gegessen worden. Es gab damals Fälle von aufgegessenen Kleinkindern. Die Zeit in Kasachstan mit zwanzig war vergleichsweise sanfter und lustiger. Quasi ihre Jugendabenteuer.

Kennen Sie die Steppenlandschaft Kasachstans, und würden Sie heute nach Russland fahren?

Vertlib – Nein, ich kenne sie nicht real, sondern aus Erzählungen vieler Menschen und aus Recherchen. Es würde mich reizen, aber jetzt sind die politischen Ereignisse so, dass ich nicht nach Russland reisen kann. Aufgrund dessen, was ich zum Russland-Ukraine-Krieg geschrieben habe, wäre diese Reise nicht ungefährlich. Was Kasachstan betrifft, so weiß man, wie sich dort alles entwickelt. In meinem Alter und nach einem Herzinfarkt, den ich vor ein paar Jahren hatte, bin ich in einem Zustand, in dem ich ein derartiges Risiko nicht eingehen möchte. Vor zehn oder vor zwanzig Jahren hätte ich es machen sollen. Aber da war ich noch zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, und jetzt ist es wahrscheinlich zu spät. Aber wer weiß, was die Zukunft bringt? Wer weiß, wie lange Putin noch lebt? Wer weiß, wie lange ich noch lebe? Wer weiß, wie ich in fünf oder zehn Jahren drauf bin? Ich will nichts ausschließen.

Vertlib by Aleksandra Pawloff c Aleksandra Pawloff
(c) Aleksandra Pawloff
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