Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2022 an Karl-Markus Gauß verliehen

Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2022 wurde am 16. März 2022 in der Nikolaikirche zu Leipzig an Karl-Markus Gauß verliehen, die Laudatio hielt Daniela Strigl. Im Vorfeld fand eine Friedensaktion der Initiatoren des Preises statt.

Europäische Verständigung war nie ein Selbstläufer, aber selten so dringend erforderlich wie in Zeiten des Krieges: Seit 28 Jahren würdigen die Stadt Leipzig, der Freistaat Sachsen, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. und die Leipziger Messe mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung Persönlichkeiten, deren geistiges und literarisches Werk sich in hervorragendem Maße um das gegenseitige Verständnis in Europa und darüber hinaus verdient gemacht hat und sich zeitgeschichtlicher Zusammenhänge bewusst ist. Im Jahr des Ukraine-Krieges erhielt am 16. März der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß in der Leipziger Nikolaikirche den bedeutenden Preis für sein Werk „Die unaufhörliche Wanderung: Reportagen“ erschienen im Oktober 2020 beim Paul Zsolnay Verlag.

„So lange Krieg herrscht, ist es schwierig, für Verständigung zu werben“, sagte Karl-Markus Gauß in seiner Dankesrede für den Leipziger Buchpreis der Europäischen Verständigung. Aber wann wäre es notwendiger, es zu tun? Mit diesen Worten warb der Preisträger 2022 für Verständigung und Gespräche etwa von ukrainischen sowie russischen Autor:innen auf der Leipziger Buchmesse 2023. „Damit man mich nicht vorsätzlich missverstehe: Ich meine nicht, dass man nach einem Ausgleich zwischen den Obsessionen des Aggressors und den legitimen Interessen und Anliegen der Überfallenen suchte. Aber zumindest zwischen denen, die auf der einen Seite aufbegehren, um keine Täter zu werden, und denen, die auf der anderen Seite nicht Opfer bleiben wollen, müsste sie doch möglich sein.“ Mit Blick auf die kommende Leipziger Buchmesse im März 2023 äußerte er: „Die Leipziger Buchmesse ist nicht die einzige Brücke, auf der sie sich und mit uns Ratlosen, aber nicht Gleichgültigen treffen könnten. Dafür muss es die Leipziger Buchmesse freilich weiterhin geben; auf dass sich im nächsten Jahr russische Autorinnen, die nicht trauern, weil ihr Despot den Krieg verloren hat, und ukrainische Autoren, die nicht jubeln, weil Russland selbst aus der Gemeinschaft der zivilisierten Nationen verstoßen wurde, mit uns über, naja, sagen wir über Europa reden. Und über anderes mehr.“ Schließlich, so sagte Karl-Markus Gauß an anderer Stelle seiner Rede sei die Leipziger Buchmesse „die Messe, deren nicht zu geringster Verdienst es ist, die realen und die imaginären Grenzen, die durch Europa schneiden, in der Literatur aufzuheben… .“

Daniela Strigl betitelte ihre Laudatio auf Karl-Markus Gauß „Die sieben Sachen des Wanderers“: „Als Forscher und Reporter nicht minder denn als Leser, Denker und Schriftsteller ist Karl-Markus Gauß ein Wanderer, und ich möchte hier gewissermaßen seinen symbolischen Rucksack in Augenschein nehmen, seine Siebensachen oder, wie man in Österreich auch sagt, Siebenzwetschken, mit deren Hilfe er zuverlässig seinen Bestimmungsort erreicht, auch wenn es vordringlich nicht darum geht“, erläuterte die österreichische Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin. Sieben Elemente gehören, so Daniela Strigl, in den Rucksack des diesjährigen Preisträgers: Neugier, Trittsicherheit, Schwindelfreiheit, leichtes Gepäck, festes Schuhwerk, Kompass und Kondition. Der literarische Forschungsreisende zeige, dass auch das Abgelegte und das Abgelegene nicht außerhalb der Geschichte existiere. Der Stadtwanderer bestaune nicht nur die restaurierten Fassaden, er betrete beherzt auch den Hinterhof der Gesellschaft. „Karl-Markus Gauß ist als Einzelgänger unterwegs, er kommt ohne Seilschaft aus. Auch deshalb setzt er auf leichtes Gepäck: keine ehernen Wahrheiten, kein Pathos, kein Denkverbot, keine Vorurteile“, so die Laudatorin weiter. „Karl Markus-Gauß’ Gang durch Europa orientiert sich an dessen Rändern, an dessen Peripherie. Europa, das ist Paris, London, Berlin, Wien, Prag, Moskau, aber eben auch Odessa, die Zips in der Slowakei, die Heimat der Sorben in Ostdeutschland, Kalabrien mit der Volksgruppe der Arbëreshë.“ Die Mühen der Ebene entmutigen diesen Wanderer nicht und auch nicht die Durststrecken – daher wünschte Daniela Strigl in Leipzig abschließend „dem unaufhörlichen Wanderer andauernde Ausdauer auf seinem Weg!“

Aus Anlass des fortdauernden Krieges in der Ukraine hatten die Initiatoren des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung – die Stadt Leipzig, der Freistaat Sachsen, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. und die Leipziger Messe – gemeinsam mit Evangelisch-Lutherische Kirchgemeinde St. Nikolai Leipzig zur Solidarität mit der Ukraine aufgerufen. An der Aktion unter dem Titel „Recht auf Frieden“ beteiligten sich zahlreiche Menschen, um die Friedensbotschaften von Oberbürgermeister Burkhard Jung und Peter Kraus vom Cleff, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V., zu unterstützen. Zur Friedensaktion waren virtuell bzw. in Präsenz zwei Vertreter der ukrainischen Literaturszene zu Gast: der Schriftsteller Juri Andruchowytsch sowie Olexandr Affonin, Präsident des ukrainischen Buchhändler- und Verlegerverbandes, der auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine derzeit in Deutschland ist.

Mit einer Videobotschaft aus seiner west-ukrainischen Heimatstadt Iwano-Frankiwsk wandte sich Juri Andruchowytsch an die Gäste vor der Nikolaikirche in Leipzig. Der Schriftsteller, Dichter und Essayist erhielt 2006 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und gratulierte zunächst dem diesjährigen Preisträger Karl-Markus Gauß, den er seit 26 Jahren gut kenne. Im Anschluss sendete Juri Andruchowytsch einen eindrücklichen Appell zur Furchtlosigkeit an Politik und Gesellschaft: „Europa hat sich für die Ukraine heutzutage endlich geöffnet. Jedenfalls an den Grenzen für Flüchtlinge, zumindest das bisher. Aber die massenhaften blau-gelben Dekorationen genügen uns nicht mehr. Die totalen Stürme von Begeisterung und Empathie, das betäubende Klatschen im Stehen und die Kundgebungen. Das ist alles rührend und wunderbar, aber es genügt uns nicht. Bei uns sterben Leute, sterben Kinder, ihre Mütter, Väter, alte Leute und junge Leute. Die friedliche Bevölkerung unseres Landes befindet sich heute im Zentrum der Hölle. Das ist das größte Kriegsverbrechen aller Zeiten und wir sind im Zentrum von diesem Verbrechen. Unser Land stirbt. Seine Städte, Brücken, Gebäude, Flughäfen, Kulturdenkmäler. Also jetzt ist viel mehr gefordert, als für uns zu beten und zu weinen. Nicht nur Güte und Gastfreundschaft, nicht nur Wärme und unterstützende Worte, sondern auch Ihre furchtlose Tat. ‚Furchtlosigkeit‘ ist das Stichwort. Keine Angst, bitte keine Angst. Fürchten Sie sich nicht, seien Sie tapfer gegen diese Gefahr. Das ist hier eine Gefahr für uns alle, das ist eine gemeinsame Gefahr. Es ist die höchste Zeit, nicht mal für die klare europäische Perspektive, sondern für die vollwertige Mitgliedschaft der Ukraine in der EU. Sie brauchen uns, um viel größer, mutiger und stärker zu sein.“

17.3.2022

Foto (c) Tom Schulze
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