Anzeiger 6/2021 – Der Osterhase kommt vor…

… Das Christkind bisher nicht in Michael Rohers umfangreichem und nun mit dem Christine-Nöstlinger-Preis ausgezeichneten Jugendbuchwerk. Sein Wirken umfasst weitere Lebensbereiche, Zirkus gehört auch dazu.

 Interview: Erich Klein

Der Kinderbuchautor und Illustrator Michael Roher (1980 in Nieder­österreich geboren) hat bislang gut dreißig Bücher illustriert respektive selbst geschrieben. Darüber hinaus ist er ein Multitalent. In Wien machte er die Ausbildung zum Sozialpädagogen. Seine Liebe zum Zirkus, zum Zeichnen und Gestalten sowie zur Arbeit mit Menschen bestimmen seine Tätigkeiten und Projekte. Für seine Bilderbücher und Geschichten erhielt Michael Roher zahlreiche Auszeichnungen wie den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis, das Mira-Lobe-Stipendium, den Outstanding Artist Award im Bereich Kinder- und Jugendliteratur und jüngst den Christine-Nöstlinger-Preis. Michael Roher lebt mit seiner Familie in Baden bei Wien.

Herr Roher, wie wichtig sind Ihre Kinder für Sie als Kinderbuchautor?

Michael Roher ­— Sie sind sehr inspirierend, einerseits weil ich durch das Vorlesen mit aktueller Kinderliteratur in Berührung komme und andererseits weil sich beim Erzählen von Gutenachtgeschichten immer wieder neues Geschichtenmaterial entwickelt. Um ein Beispiel zu nennen: „Frosch und die abenteuerliche Jagd nach Matzke Messer“ entstand, weil unser Sohn eine Zahnspange bekam und ich während des Zähneputzens begann, Geschichten zu erfinden. Er konnte dabei immer vorschlagen, welche Figuren vorkommen sollten. Es war ziemlich lustig. Aus den Highlights dieser Geschichten ent-stand das Buch. Meine Tochter ist mittlerweile überzeugt, selbst einmal Autorin und Illustratorin werden zu wollen. Sie schreibt und zeichnet und schaut mir über die Schulter, um zu sehen, was ich gerade mache. Wenn sie sagt: „Pfau, Papa, das ist ein schönes Bild“, dann ist das schon ziemlich gutes Feedback.

 

Und wenn sie sagen: „Papa, jetzt wird’s fad, das haben wir schon gehört?“

Roher — Das kommt eigentlich nicht vor. Es passiert höchstens, dass ich es mir leicht mache und ein Buch nacherzähle. Dann merken sie, dass ich das nicht frei erfunden habe. Eher passiert das Gegenteil. Sie sagen, erzähl noch einmal die Geschichte von den Cornflakes, aber ich weiß nicht mehr, wie die ging. (lacht)

 

Was erstaunt Kinder am meisten an Büchern?

Roher — Kann man so allgemein nicht sagen. Ich glaube, dass Kinder genauso wie ich selbst als Autor Humor in den Geschichten sehr mögen. Wenn ich meine Geschichten vorlese und die Kinder lachen, ist das ein schönes Gefühl. Natürlich ist das allein kein Qualitätskriterium. Eine Geschichte muss thematisch überzeugen, es braucht auch leise Geschichten. Aber Kinder lieben es, wenn es lustig ist und sie unterhalten werden. Was sie erstaunt? Vermutlich, wenn eine Geschichte ins Fantastische oder Surreale geht. Das gilt auch für Bilder, in denen Dinge passieren, die man aus der Wirklichkeit so nicht kennt und die erst enträtselt werden müssen. Also wenn Sehgewohnheiten erweitert werden.

 

Die Lieblingsbücher Ihrer Kindheit?

Roher — Ich kann mich gut erinnern, dass mir meine Eltern viel vorlasen – vor allem meine Mama. Astrid Lindgrens „Ronja Räubertochter“ brachte in mir etwas zum Klingen. Andere Kinder wollten sich in Pippi Langstrumpf verwandeln, ich lief im langen Pullover meines Papas durchs Haus und wurde zu Birk Borkason im Mattiswald. Das Buch hat mich fasziniert, vor allem das Unheimliche, aber auch die unerschrockene Figur der Ronja und die Geschichte der Freundschaft. In der Volksschulzeit bin ich in „Die drei ???“, „Knickerbockerbande“ und „Die Acht vom großen Fluss“ gekippt. Nöstlingers „Die feuerrote Friederike“ hatte ich auch sehr gern – da hat mich das Magische fasziniert. Ich hätte mir auch immer gewünscht, fliegen zu können wie Friederike.

 

Sie haben ungefähr dreißig Bücher geschrieben oder illustriert. Wundert es Sie, dass Sie Kinderbuchautor geworden sind?

Roher — Rückblickend wäre es naheliegend gewesen, diesen Beruf gleich anzustreben, ich habe aber einen Umweg gemacht und mich lange Zeit dagegen gewehrt, Zeichnen zum Beruf zu machen. Aus Angst, dass mir dann die Leidenschaft dafür abhandenkommen könnte. Dass ich dann doch Kinderbuchautor wurde, wundert mich nicht, ich folge meiner Begeisterung und tu, was ich gern mache. Insofern ist es ein fast maßgeschneiderter Beruf – also einer von mehreren.

 

Sie haben Biologie studiert?

Roher — Wirklich studiert habe ich ein Semester, inskribiert war ich zwei Semester lang. Biologie hat mich im Gymnasium sehr interessiert. Als es ans Studium ging, konnte ich mir den Lehrberuf gut vorstellen. Ich dachte, ich würde Biologie und Turnen unterrichten, habe aber bald gemerkt, dass mir das Studium nicht die Möglichkeit bietet, so zu lernen, wie ich gern lerne. Es war mir zu theoretisch, ich wollte damals möglichst schnell eine praktische Ausbildung – also wurde ich Sozialpädagoge.

 

War das eine Schule, um später Kinderbücher zu machen?

Roher — In gewisser Weise ja. Erstens bedeutete es Kontakt mit Kindern. Mein aktuelles Buch, das im August bei Jungbrunnen erscheint, spielt in einer sozialpädagogischen WG, und da fließen Erfahrungen aus der Praxis mit ein. Außerdem haben wir uns im Unterricht theoretisch mit Kinder- und Jugendbüchern befasst. Für die Abschlussarbeit konnten wir das auch praktisch umsetzen und ein eigenes Kinderbuch machen. Das war ein Schlüsselerlebnis für mich. Mir wurde klar, dass dies eine Nische für mich als Zeichner und Schreiber sein könnte, um daraus einen Beruf zu machen.

 

Wie verhält es sich mit Auswendiglernen von Gedichten in der Schule?

Roher — Ich habe mir bis heute vor allem jene Gedichte gemerkt, die ich freiwillig von Hörkassetten auswendig gelernt habe. Es spricht aber nichts dagegen, dass man einige Gedichte auswendig lernt – etwa, um das Gedächtnis zu trainieren.

 

Was waren Ihre Lieblingsautoren als junger Erwachsener?

Roher — Mir ging das Lesen in der Jugend ein wenig verloren. In der Schule hat man viel zu tun, ich musste Literatur lesen, die mir gar nicht entsprach. Die Lust am Lesen habe ich erst wiederentdeckt, als ich selbst entscheiden konnte, was ich lesen will. Ich weiß noch, als mir meine Freundin von Paula Köhl­meiers „Maramba“ erzählte. Paulas Art des Erzählens, diese Form und Sprache haben mich inspiriert. Ich habe, was den Zugang zu guter Literatur betrifft, Glück: Meine Freundin ist eine große Leserin, die mir gute Sachen vorschlägt. Ich könnte jetzt viele Namen aufzählen, aber dennoch nicht sagen, dass ich einen Lieblingsautor oder eine Lieblingsautorin habe. Ich lese sehr viele Jugendbücher und mag es, wenn es Autor*innen beherrschen, mit Sprache etwas zu bewirken, also wenn Sprache mich berührt und tief geht. Oft finde ich das in Formen wie Lyrik oder Kurzprosa.

 

Wie kamen Sie zum Zirkus?

Roher — Da muss ich weiter ausholen. In der dritten oder vierten Klasse Gymnasium hatten wir einen Jonglierworkshop, ich lernte mit zwei, drei Bällen zu jonglieren und war stolz darauf. Bis zur Matura konnte ich dann schon fünf Bälle jonglieren. Außerdem begeisterte ich mich damals, ausgelöst durch eine Fernsehdokumentation über Zirkuskinder, für Akrobatik und lernte Flickflacks und Saltos. In der Sozialpädagogik musste ich ein Praktikum machen und stieß auf den Zirkus Drosendorf. Dort ist dann die Leidenschaft für Zirkus weitergewachsen, und wenig später begann ich, beim Wiener Kinderzirkus KAOS zu unterrichten.

 

Romantische Begeisterung für fahrendes Zirkusvolk?

Roher — Ich mag ja vor allem den zeitgenössischen Zirkus, und der hat mit dem fahrenden Volk nichts mehr zu tun. Moderner Zirkus ist eine Kunstform. Es geht dabei um den kreativen Ausdruck und darum, mit dem Körper durch Artistik, Tanz und Schauspiel Geschichten zu erzählen und Bilder zu schaffen, und genau das wollte ich auch. Bis heute fasziniert mich an Zirkusaufführungen, dass hier eine eigene Welt geschaffen wird, in der alles möglich ist – eine Parallele zum Illustrieren, das auch eine Bühne bietet, auf der man sich austoben kann, der Realität nicht verpflichtet ist und surreal und fantastisch werden kann.

 

Sie sind ein Einmannbetrieb in vielen Sparten. Was machen Sie außer Schreiben und Illustrieren noch?

Roher — Grundsätzlich ist es ein großer Luxus, dass es sich so gefügt hat. Alle Tätigkeiten, die ich beruflich ausübe, mache ich sehr gern. Gelegentlich spielpädagogische Workshops mit Schulen, Lesungen und Zirkus  – all das gibt mir sehr viel. Dass ich damit meinen Lebensunterhalt bestreiten kann, ist wunderbar. Das Schöne ist auch, dass ich durch diese unterschiedlichen Tätigkeitsfelder die Möglichkeit habe, immer wieder auch den Schwerpunkt zu verlagern.

 

Keine Angst vor Politik in Kinderbüchern?

Roher — Es spricht für mich nichts dagegen, Missstände, Probleme oder Konflikte auf­zuzeigen, die auch gesellschaftspolitische Fragen aufwerfen.

 

„Nicht egal“, eines Ihrer jüngeren Bücher, hat die Klimafrage zum Thema. Wie kam es dazu?

Roher — Ein Bekannter hatte sich ent-schlossen, seine Firma klimaneutral zu machen, und wollte sein Engagement deutlich machen. Er hatte verschiedene Kooperationen und wollte eine Figur er-finden, die diese Idee transportiert – so ist die Idee einer Klimapiratin entstanden.

 

Ihr Buch war eine Auftragsarbeit?

Roher — Die Figur der „Klimapiratin“ war eine Auftragsarbeit, aber da mich das Thema Klimaschutz zu dem Zeitpunkt schon länger persönlich beschäftigte, kam mir die Idee, ein Buch darüber zu machen. Zusammen mit meinem Bekannten und seiner Firma entstand dann auch die Idee für eine Onlineplattform mit dem Ziel, Kinder auf kindgerechte Weise diese Themen nahezubringen. Die Initiative ist noch nicht abgeschlossen. Es soll auch einen Klimapreis geben, und die Seite wird laufend mit neuen Inhalten und Geschichten erweitert.

 

Prinzessinnen und Burgen haben in Ihren ­Büchern keine Bedeutung mehr?

Roher — Doch. In zwei meiner Bücher kommt das vor: „Wer fürchtet sich vorm lila Lachs?“ und „Prinzessin Hannibal“ von Melanie Laibl – das habe ich illustriert. Im Fall der Prinzessinnen spiele ich gern mit den Rollenstereotypen: Die Prinzessin hat dann mitunter einen Cowboyhut und einen Kapselrevolver. Ich habe auch eine Affinität zum verklärten Mittelalter: Ähnlich wie beim Zirkus faszinieren mich die Gaukler und das Handwerkliche. Das Handwerkliche schätze ich auch beim Illustrieren. Ich arbeite nicht mit dem Computer, ich mag das Analoge, das haptische Erlebnis, den Geruch der Farbe, das Geräusch des Bleistifts, wenn er über das Papier kratzt. Im Mittelalter gab es ja auch noch keine Computer, da wurde alles von Hand gefertigt; es gefällt mir, wenn man sieht, wie etwa ein Faden auf einer Spindel gesponnen wird. Das Vertiefen in ein Handwerk, und es riecht vielleicht auch noch nach Lagerfeuer, das hat auch etwas Romantisches.

 

Wie steht es mit dem Christkind und dem Osterhasen – also der Frage nach Religion?

Roher — Dass das Christkind bei mir nicht vorkommt, war keine bewusste Entscheidung. Es gab einfach kein Bedürfnis, darüber zu schreiben. Der Osterhase kommt vor. Mich treibt aber schon die Frage um, was mit uns nach dem Tod passiert. Ich bin nicht katholisch, aber ich habe eine gewisse Art von Glauben oder Hoffnung, dass es etwas Übergeordnetes gibt. In meinem Roman „Tintenblaue Kreise“ geht es um Nahtoderfahrungen und die Frage der Protagonistin, was nach dem Tod geschieht.

 

Wie wichtig waren Comics für Sie?

Roher — Sehr wichtig, ich habe als Jugendlicher viele Comics gezeichnet. Sie waren vor allem für meine zeichnerische Entwicklung wichtig. Ich habe mir durch genaue Beobachtung, wie andere es machen, vieles erschlossen. Meine Mutter besaß eine „Geschichte der Comics von Altamira bis Asterix“, in die ich regelrecht versunken bin. Es ging darin um die Kombination von Schrift und Texten im Lauf der Geschichte, von Hieroglyphen über Wilhelm Busch bis hin zu den heutigen Comics. Dort gab es Abbildungen von Superhelden, Batman, auch ältere Sachen wie Tarzan, und es hat mich fasziniert, wie man durch reine Schwarz-Weiß-Schattierungen Formen herausholen kann. Ich habe viel ausprobiert – das war meine Schule.

 

Sie haben Comics gezeichnet und geschrieben?

Roher — Gemeinsam mit einem Freund, der den Text adaptierte, habe ich Orwells „Animal Farm“ illustriert. Wir haben das dann in kleiner Auflage in der Schule verkauft. Das war aber nicht der einzige Comic, den ich in meiner Jugend gemacht habe. Ich habe ganze Sommer lang nur am Schreibtisch gezeichnet.

 

Würde es Sie interessieren, eine Graphic Novel zu machen?

Roher — Es würde mich reizen, doch im Moment gibt es noch keine Geschichte, die zu einer Graphic Novel werden will. Die meisten Ideen, die ich habe, werden zu Romanen oder Bilderbüchern – vielleicht kommt das noch. Womöglich hält mich auch meine Vorliebe für Abwechlsung bislang davon ab. Bei einem Bilderbuch kann ich mir aussuchen, zu welcher Stelle eines Textes ich ein Bild male, ich kann mich auch vom Text wegbewegen. Bei der Graphic Novel hat das Bild erzählerische Funktion, da kann ich nicht einfach Bilder auslassen, die für die Entwicklung wichtig sind. Beim Bilderbuch bin ich da freier. Im Fall von „Jaguar, Zebra, Nerz“ von Heinz Janisch, der sehr poetisch und bildhaft schreibt, konnte ich schauen, welches sprachliche Bild mich am meisten reizt, mich dann auf eines fokussieren oder auch mehrere Dinge in ein Bild integrieren oder auch nur eine Atmosphäre einfangen.

 

Einen „richtigen“ Roman würden Sie nicht gerne schreiben?

Roher — Ich fühle mich in der Kinder- und Jugendbuchszene gut aufgehoben. Das mit „richtig“ meinen Sie hoffentlich nicht ernst! (lacht) Es passiert mir als Leser häufig, dass mich die Jugendliteratur stärker inspiriert oder auch berührt als Romane der Allgemeinliteratur. Es gibt sehr viel großartige Jugendliteratur, und ich finde es schade, dass oft sehr starr eingeteilt wird in: „Das ist Jugendliteratur. Das liest man bis sechzehn und dann nicht mehr. Und das ist für Erwachsene.“ Mit solchen Kategorisierungen tue ich mir schwer.

 

Sie haben kürzlich den neu geschaffenen Christine-Nöstlinger-Preis bekommen …

Roher — Ich war platt, als ich davon erfuhr. Meine erste Reaktion war – echt, ich? (lacht) Ich wusste nicht, was ich sagen soll, und musste das erst einmal einsickern lassen. Es ist ja ein großes Ding – der größte Preis, den ich je bekommen habe. Ich verstehe aber auch jede kleine Auszeichnung, selbst wenn es nur eine schöne Rezension ist, als Kompliment, das mir Antrieb gibt und mich darin bestärkt, dass ich auf einem guten Weg bin.

 

Ihre Lieblingsbuchhandlung?

Roher — Die „Fabelwelt“ in Wien mochte ich sehr gern, dort habe ich auch öfter gelesen. Dann Tyrolia natürlich – wenn ich Bücher online bestelle, was selten geschieht, dann bei dieser Buchhandlung. In Baden gehe ich gerne zum Zweymüller, einer alten Buchhandlung mit alten Holzböden und schönen Regalen. Wir waren auch in der Livraria Lello in Porto, da musste mein Sohn unbedingt hin, weil diese Buchhandlung angeblich Joanne K. Rowling beim Schreiben an ihrer Harry-Potter-Welt inspiriert hat. Man muss Eintritt zahlen, aber die Buchhandlung ist irrsinnig schön.

 

Michael Roher (c) privat
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