Archive des Schreibens: Clemens J. Setz

Im Rahmen des Gastlandauftritts Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 entsteht in Kooperation mit dem ORF-Fernsehen unter dem Titel „Archive des Schreibens“ ein filmisches Archiv österreichischer Gegenwartsliteratur, das zeitgenössische österreichische Autor:innen in ästhetisch wie inhaltlich anspruchsvoll gestalteten Kurzporträts einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Das Projekt geht in die nächste Runde und wird in den nächsten vier Jahren fortgesetzt, nun gemeinsam mit dem neuen Kooperationspartner, der Österreichischen Gesellschaft für Literatur (ÖGfL) sowie mit ORF-TV-Kultur und ORF-Topos.

Die neue Folge handelt von Clemens J. Setz, Preisträger des Österreichischen Buchpreises 2023.

In den letzten Jahren hat Clemens Setz, einer der unkonventionellsten Autoren Österreichs, eine Auszeichnung nach der anderen abgeräumt. Nicht überall bekannt sein dürfte, dass Setz auch auf Twitter dichtend aktiv war. Mit „Das All im eigenen Fell“ hat er die digitalen Texte nun in Buchform gepackt: ein luftig-doppelbödiger Band als perfekte Sommerlektüre – auch für weniger Lyrikaffine.

Twitter sei „das bedeutendste poetische innovative Phänomen meines Lebens“, würdigt Setz die Bedeutung der Plattform in der Einleitung seines neuen Buchs. Der 41-jährige war lange Zeit deklarierter und begeisterter Twitter-Nutzer. Wie viele andere hält er sich mittlerweile aber fern, seit mit Elon Musks Übernahme das Zeichenlimit wegfiel – für Setz das wichtigste Regelwerk: „Es ist ungefähr so, als würde man auf allen Tennisplätzen der Erde die Netze entfernen“. Wegen Account-Inaktivität droht nun die endgültige Löschung. Eine gute Entscheidung also, dass er den Output als „Erinnerungsbuch“ für die Nachwelt erhalten hat!

Setz im Bücherstapel: von schmal (der Gedichtband „Die Vogelstraußtrompete“) bis episch („Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“).
Denn dass Setz’ Twitter-Gedichte „gereimt, klassisch, brav“ (in der Selbstbeschreibung) sind, trifft es nur zum Teil. Die Verse – ob klassischer Vierzeiler, mehrstrophig, Haiku oder „Emoji-Gedicht“ – vereinen auf das Vergnüglichste seine Liebe für abseitige Details, Freude am Weiterdichten von Fundstücken und bisweilen einen Hauch von Blues. Setz macht aus Tarotkartenmotiven, dem („wie Günter Grass“ dreinschauenden) Stiefmütterchen am Straßenrand oder den Gesichtern, die er in seinen Knien zu erkennen glaubt, Poesie:

In meinem Knie da wohnt ein Mann
der klagt die Welt verzweifelt an
Er brüllt und brüllt, doch ohne Laut
So dicht umgibt ihn meine Haut (…)

Der Themenmix, den Setz zwischendurch mit einleitenden Texten begleitet, ist also bunt, als ein Leitmotiv lässt sich ein Faibel des Autors für Jahreszeiten erkennen:

Der Sommer hängt am letzten Apfelstängel
Ich fühle mich als hätt ich Nährstoffmängel

Altes Hobby im Hintergrund: Mit großer Leidenschaft erforscht Setz’ Literatur abseitige, „nerdige“ Wissensgebiete und vermischt die Ergebnisse seiner intensiven Recherchen mit fiktiven Elementen.
Entdeckenswertes in Nischen
Mit der spielerischen Herangehensweise und dem Schalk im Nacken liest sich das Buch jedenfalls als Gegenprogramm zu dem, was Setz im Frankfurter Literaturhaus 2023 als „literarische Literatur“ bezeichnete hatte, der er selbst, wie er sagte, mit wachsender Ungeduld begegne. Diese Form produziere im hohen Ton das Immergleiche. Es gebe aber, so der Autor, „so viel anderes. In Nischen.“

Das Abseitige, Kuriose, Abgründige, mit diesen Charakterisierungen versucht die Kritik auch seit über 15 Jahren dem komplexen Werk Setz’ beizukommen. Als virtuoser Sprachkünstler hat er sich in den letzten gut 15 Jahren mit Publikationen einen Namen gemacht, die sich um Bizarres und Rätselhaftes drehen.

Ging es in „Die Bienen und das Unsichtbare“ (2020) etwa um Plansprachen, handelte sein letzter Roman „Monde vor der Landung“, ausgezeichnet mit dem Österreichischen Buchpreis, von der Hohlwelttheorie: Im Zentrum steht die historische Figur des Piloten Peter Bender, der in der Zwischenkriegszeit daran glaubte, dass die Menschheit im Inneren einer Kugel lebe und – als eine Art früher Querdenker – in der Folge diese Theorie verbreitete.

Vom Computerspiel zur Literatur
Zur Literatur kam Setz, der 1982 in Graz geboren wurde, erst über Umwege. „Computerspiele waren das Fundament, mein Weltbild“, so der Autor im ›Archive des Schreibens‹-Gespräch. Bücher interessierten ihn als Kind nur in vorgelesener Form oder als Hörspiel, lieber spielte er stundenlang am PC, über Jahre. Bis er schließlich mit 16 an Migräne erkrankte und als Alternative zum Flimmerkasten zu lesen und Gedichte zu schreiben begann.

Zahlreiche Auszeichnungen
Erfolg hatte Setz, der in Graz Mathematik und Germanistik studierte, aber bekanntlich vor allem als Romanautor. Seit seinem Debüt „Söhne und Planeten“ im Jahr 2007 hat er sich zunächst vor allem als Meister des subtilen Schreckens profiliert, mit Erzählungen von eingesperrten Frauen und verstossenen Kindern, von sexuellen Exzessen und Misshandlungen, Gewalt und Zerstörung. Als virtuoser Sprachkünstler verpackte er das Krasse und Pathologisch Rätselhafte in eine betörend nüchterne Sprache und erhielt dafür in darauffolgenden Jahren zahlreiche Auszeichnungen: Seine 700-Seiten-starke, abgründige Vater-Sohn-Geschichte „Die Frequenzen“, für die ihn die Kritik als „Wunderkind der österreichischen Literatur“ bejubelte, wurde 2009 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für den Erzählband „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ (2011) wurde er mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrt.

2015 erschien schließlich sein viel beachtetes Buch „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, ein 1.000-seitiger „philosophischer Psychothriller“, der das Innenleben eines Behindertenwohnheims durchleuchtet und über Stalking und sadistischen Psychoterror erzählt. Etliche weitere Preise folgten, darunter 2020 der Kleist-Preis, 2023 der österreichische Buchpreis für „Monde vor der Landung“, heuer der ›Poeta Laureatus‹ des Literaricum Lech, und, als wichtigste Anerkennung für deutschsprachige Literatur, 2022 der Georg-Büchner-Preis.

„Ist nur die Literatur geworden“
„Es wäre mir jetzt lieber, ich hätte einen breiteren Horizont als Literatur, aber es ist nur Literatur geworden“, sagt der Vielleser im ›Archive‹-Gespräch. Setz’ Schreiben beweist allerdings, dass es weit mehr als die Literatur ist, die ihn ausmacht – das erkannte nicht zuletzt die Jury des Literaricum Lech im Jänner dieses Jahres: „Ein Geschichtenumsetzer mit weitem Horizont, ein Themenfinder mit Scharfblick, ein Materialumwälzer mit grenzenlosem Interesse. Das hat die deutschsprachige Literatur selten gesehen.“

Zu sehen ist Clemens Setz im Porträt der ‚Archive des Schreibens‘-Reihe unter folgendem Link: Clemens Setz: Archive des Schreibens

Text: Paula Pfoser für ORF Topos (leicht aktualisiert im Sommer 2024)

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