Archive des Schreibens: Susanne Gregor

Im Rahmen des Gastlandauftritts Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 entsteht in Kooperation mit dem ORF-Fernsehen unter dem Titel „Archive des Schreibens“ ein filmisches Archiv österreichischer Gegenwartsliteratur, das zeitgenössische österreichische Autor:innen in ästhetisch wie inhaltlich anspruchsvoll gestalteten Kurzporträts einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Die neue Folge handelt von Susanne Gregor.

Als Migrantin unsichtbar zu sein schützt nicht vor der Erfahrung von Diskriminierung und Fremdheit. Das musste Gregor erleben, als sie 1990 mit ihren Eltern von der Industriestadt Žilina in der ehemaligen Tschechoslowakei in den oberösterreichischen Ort Wartberg zog, wo es damals kaum andere Zugezogene gab.

„Die Fremde ist wie ein Spiegelkabinett“, sagt Gregor im „Archive des Schreibens“-Porträt. Wenn man auswandere, bedinge das einen „großen Verlust, und sehr vieles gibt es daran zu betrauern.“ Aber es sei auch „ein neutraler Boden. Und wenn man sich wirklich drauf einlässt, dann liegt eine sehr große Freiheit vor.“

Die Veränderung war für die damals neunjährige Gregor, die sich als Außenseiterin mit viel Wut im Bauch regelrecht ins Spracherlernen stürzte, trotz aller geografischen Nähe gewaltig. Von der Stadt aufs Land, in eine neue Sprache, von Ost nach West in ein anderes Wertesystem und eine so nicht gekannte Klassengesellschaft, in der Kleidermarken plötzlich alles bedeuteten. Seit den 2000er Jahren macht sie, die ursprünglich Zuzana Gregorova hieß, diese Erfahrung in ihrer Literatur erfolgreich produktiv.

Fremdheit und Entfremdung als literarischer Stoff
2010 erhielt Gregor, die nach einem Fulbright-Stipendium in den USA seit 2005 in Wien lebt, den Exil-Literaturpreis. Ihr Debütroman „Kein eigener Ort“ war 2012 für den österreichischen Literaturpreis Alpha nominiert. Schon in diesem Buch thematisierte sie eine nicht unkomplizierte Beziehung in einer ihrer Protagonistin fremden Stadt. Ging es da um Budapest als Erfahrungshorizont, war es im zweiten Roman „Territorien“ das kolumbianische Managua, in das ein binationales Paar – er Kolumbianer, sie Österreicherin – nach einem überraschenden Anruf aufbricht.

Von der Kritik wurde die psychologisch ausgeklügelte Figurenkonstellation von „Territorien“ gelobt, eine Qualität, die sich auch durch ihre weiteren Bücher zieht. Hinter einem nüchternen und sachlichen Ton lauern zwischenmenschliche Abgründe, Menschen, die sich reiben, Macht ausüben, sprachlos sind. Eine „große Sogwirkung“, attestierte der „Falter“ den „Territorien“.

Viel Lob für Wenderoman
Besonders viel Aufmerksamkeit erhielt Gregor für ihren 2019 erschienenen Roman „Das letzte rote Jahr“ über die Wende 1989 aus Perspektive von drei 14-jährigen Freundinnen. Sie verschränkt darin die Pubertätserfahrung mit der Erfahrung des politischen Umbruchs. Neben der ganz persönlichen Revolte gegen das Korsett von Familie und Schule kündigt sich, mit dem Fall des Eisenen Vorhangs, eine noch viel größere Veränderung an, die ins Private eindringt und das Leben grundlegend verändert. Über illegale Möglichkeiten zur Ausreise wird spekuliert, der Vater eines Mädchens ist nach einer Dienstreise nach Schweden schon „drüben“ und hat versprochen, alles daranzusetzen, den Rest der Familie nachzuholen.

Auch bei einer zweiten Familie heißt es: „Er (der Vater, Anm.) stellte keine Frage, sondern verkündete, es war beschlossen, wir würden nach Abschluss meines Schulsemesters im Februar nach Österreich ziehen.“ Die Antwort der Großmutter, die im Buch als Mischung aus guter Seele und strengem Hausdrachen mit vielschichtiger Ambivalenz gezeichnet wird: „Was soll das bedeuten, seid ihr jetzt alle übergeschnappt?“

Von Gelingen und Scheitern von Integration, vom Zusammenwachsen und Fremdbleiben zweier Teile Europas ist auch in „Wir werden fliegen“ von 2023 die Rede. Im Buch, das für den österreichischen Buchpreis nominiert war, nimmt Gregor die Fäden des Geschwisterpaars Alan und Miša auf, die schon in „Das letzte rote Jahr“ eine Rolle spielten und nun erwachsen geworden sind. Anlässlich des Erscheinens attestierte Cornelius Hell in der Ö1-Reihe „Ex libris“, dass Gregor „sprachlich faszinierende und dazu auch noch spannende Romankunstwerke“ schreibe.

Beziehungen als Herzstück der Literatur
In „Wir werden fliegen“ zeigt Gregor einmal mehr, dass Beziehungsgeflechte das Herzstück ihrer Literatur sind: „Also ich glaube, dass der Mensch oder zwei Menschen und wie sie zueinander stehen, schon eine ganz große Geschichte erzählen können“, so Gregor im „Archiven des Schreibens“-Porträt.

Zu sehen ist Susanne Gregor im Porträt der ‚Archive des Schreibens‘-Reihe im ORF-Topos-Player unter folgendem Link: https://topos.orf.at/archive-des-schreibens-susanne-gregor100

Text: Paula Pfoser

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