anzeiger 9/23 – Wo Licht einfällt

Wir leben in dunklen Zeiten, sagt Philippe Sands, Menschenrechtsanwalt und Autor, der heuer den Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln erhält. Seine Bücher sollen Licht in diese dunklen Zeiten bringen.

Interview: Erich Klein.

Philippe Sands wurde 1960 als Sohn jüdischer Eltern in London geboren. Seinem Großvater Leon Buchholz gelang 1938 nach dem Anschluss Österreichs die Flucht, seine Wiener Urgroßmutter Amalia Buchholz wurde 1942 in Treblinka Opfer des Holocaust. Sands studierte Jus in Cambridge und arbeitete an der Harvard Law School. Er ist Professor für Rechtswissenschaften und Direktor des Zentrums für internationale Gerichte am University College London. Als Völkerrechtsanwalt tritt er vor vielen internationalen Gerichten auf. „Rückkehr nach Lemberg: über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ machte ihn einem größeren Publikum bekannt. „Die Rattenlinie – ein Nazi auf der Flucht“ wurde verfilmt. Sein jüngstes Buch ist „Die letzte Kolonie – Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean“. Philippe Sands, seit 2018 Vorsitzender des English PEN, erhält heuer den Ehrenpreis des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandles.

Herr Sands, welche Bücher haben Sie in der Kindheit gelesen?

Philippe Sands: Vorneweg – Buchhändler sind für mich sehr wichtig. Meine in Österreich geborene Mutter, war Buchhändlerin. Ich liebe Buchhandlungen, vor allem unabhängige Buchhandlungen. Meine Lieblingsbücher mit acht oder neun waren Enid Blytons „Fünf Freunde“, und „Der Kampf um die Insel“ von Arthur Ransome, das ich noch immer mag. Da ich auch eine französische Seite habe, kauften mir meine Großeltern Comics wie „Tim und Struppi“ oder Lucky Luke.

 „Tim und Struppi“ ist aus heutiger Sicht politisch nicht sehr korrekt.

Sands: Damals fanden wir sie wunderbar. Es gibt in Großbritannien die Tendenz, Bücher mit rassistischen oder anderen problematischen Inhalten zu ändern. Ich habe dazu gemischte Gefühle. Ich denke, es ist wichtig, vergangene Zeiten zu verstehen, einschließlich ihrer Einstellung zu Frauen, Homosexuellen, Minderheiten, islamischen Menschen, Juden oder Schwarzen. Wir müssen wissen, woher wir kommen. Generell habe ich ein Problem damit, herauszuschneiden, was wir nicht mögen, was aber vor vielen Jahren normal war.

Auch das N-Wort?

Sands: Natürlich ist das sehr heikel. Was macht man mit Shakespeare und dessen Shylock? Es ist wichtig zu verstehen, was die Werte der damaligen Zeit waren. Wenn aber die betreffende Community die Meinung vertritt, dass bestimmte Worte heute inakzeptabel sind, muss man das respektieren. Wenn ich unterrichte, benutze ich das N-Wort nicht, aber es gibt Lieder, Gedichte und Bücher, in denen es verwendet wird. Das ist ja auch eines der beunruhigenden Themen, über die ich schreibe. Was machen Sie mit Literatur aus der Nazizeit? Was macht man mit Richard Wagner oder Martin Heidegger? Meine Ansicht ist: Sie haben getan, was sie getan haben, und wir müssen den Kontext verstehen, in dem sie gehandelt haben. Ich neige also dazu, gegen Einschränkungen der Meinungsäußerung zu sein, außer in extremen Situationen, in denen sie zu Gewalt führt. Aber es ist auch wahr, dass Bücher, die ich als Kind gelesen habe, meine Kinder nicht mehr lesen würden. Innerhalb einer Generation hat sich ein deutlicher Wandel vollzogen.

In „Die letzte Kolonie“ erwähnen Sie britische Schulbücher der 1970er-Jahre. Darin war der Kolonialismus noch eine Selbstverständlichkeit. Und Nazi-Comics waren in Ihrem Land unglaublich populär.

Sands: Briten, insbesondere Engländer, reden und lesen sehr gerne über Nazis, weil sie sich durch die Nazis besser fühlen. Sie sind eine Gruppe von Menschen, die noch schlimmeres getan haben als die Briten. (lacht) Das ist sehr bequem. Faszinierend, wie sehr sich die Rezeption von „Rückkehr nach Lemberg“ und „Die Rattenlinie“ in England von der Rezeption meines letzten Buches „Die letzte Kolonie“ unterschied. Die Briten wollen nichts von ihrer Kolonialvergangenheit wissen! „Die letzte Kolonie“ war in England kurze Zeit ein Bestseller, kam aber in Deutschland viel besser weg. Wenn ich ein Buch über Nazis schreibe, will jeder mit mir reden. Schreibe ich über britische Horrorgeschichten der Kolonialzeit, halbiert sich die Zahl derer, die mit mir reden wollen.

Wie wurden Sie Experte für internationales Recht?

Sands: Durch Zufall. Ich hatte einen fantastischen Wirtschaftslehrer in der Schule. Jedes Kind verdient eines im Leben: einen inspirierenden Lehrer. Das ist alles, was man braucht. Beim Wirtschaftsstudium in Cambridge fand ich heraus, dass der Unterricht in der Schule besser gewesen war, und wechselte nach sechs Wochen. Auch ein Irrtum: Ich wechselte zur Rechtswissenschaft, an Universitäten in Großbritannien ein ziemlich langweiliges Fach und mir verhasst bis auf den Studienzweig internationales Recht. Ich hatte einen wunderbaren Lehrer, außerdem berührte internationales Recht Themen, die mit meinem familiären Hintergrund zu tun hatten, über die wir aber in unseren Familien nie sprachen. Mein Vater war Zahnarzt, meine Mutter, 1938 in Wien geboren, kam nach Paris und war, soweit ich wusste, Französin. Es gab einen seltsamen österreichischen Hintergrund, über den niemand sprechen wollte. 1982 hatte ich einen Lehrer, der mich unter seine Fittiche nahm, er hieß Elihu Lauterpacht. Wir verstanden uns und ich habe die nächsten drei Jahre sehr eng mit ihm zusammengearbeitet. Nach vielen Jahren kamen wir drauf, dass unser beider Vorfahren aus der gleichen kleinen Stadt in Österreich-Ungarn stammten.

Sie haben sich im Kalten Krieg nie für den Osten Europas interessiert?

Sands: Erst durch die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Der 26. April 1986 hatte einen sehr tiefgreifenden Einfluss auf mein Leben. Ich wurde gebeten, in Washington einen Vortrag über die rechtlichen Aspekte von Tschernobyl zu halten. Damals hatte sich noch niemand mit internationalem Umweltrecht befasst. 1988 veröffentlichte ich mein erstes Buch über Tschernobyl. Damals wusste ich nicht, dass meine Wurzeln in der Ukraine liegen. Vielleicht hat mein Großvater einmal Lemberg erwähnt, es ging aber immer um Wien, in der Familie haben alle nur über Wien gesprochen. Dass ich aus der Ukraine stamme, davon hatte ich bis 2002 keine Ahnung. In den folgenden zehn Jahren habe ich mich mit Umweltfragen und internationalem Recht beschäftigt und engagiere mich immer noch sehr aktiv für die Umwelt. Ökozid und Klimawandel machen einen großen Teil meines Lebens aus. Vor zwei Jahren war ich Co-Vorsitzender eines internationalen Panels über Ökozid, dessen Ergebnisse heute in vielen Ländern die Gesetzesgrundlagen darstellen. Demnächst gibt es eine Anhörung des Internationalen Gerichtshofes in Hamburg zum Klimawandel. Nächstes Jahr bin ich einer der Hauptanwälte im Verfahren zum Klimawandel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Das erste englischsprachige Lehrbuch zum internationalen Umweltrecht von 1993 stammt von mir, auch eine Folge von Tschernobyl. Die Umwelt spielt eine große Rolle in meinem Leben.

Sie gehörten nie zu britischen Linken mit Kopfschmerzen in Bezug auf die Sowjetunion?

Sands: Nein. Ich verstehe mich als sehr progressiv, bin aber unabhängig und hatte nie Träume bezüglich der Sowjetunion. Ich habe auch heute keine Illusionen in Bezug auf Russland. Ich war 1986 das letzte Mal in Moskau und würde schon wegen meiner Arbeit bezüglich Putin und dessen Verbrechen nicht hinfahren. Moskau liegt für mich in weiter Ferne.

Was hat sie dazu bewegt „Rückkehr nach Lemberg“ und „Die Rattenlinie“ zu schreiben?

Sands: Ich war als junger Akademiker im internationalen Recht glücklich. Dann lernte Ich eine junge Frau kennen, vier Jahre jünger, Amerikanerin, halb Französin, halb Spanierin: Natalia Schiffrin. Ihr Vater war der bekannte Verleger André Schiffrin. Ihr Großvater Jacques Schiffrin hatte die legendäre Edition de la Pleiade gegründet. Ich heiratete Natalia und geriet so in ein sehr literarisches Umfeld. Diese Familie interessierten sich für das, was ich tat, aber nicht für die akademische Schreibweise darüber. Trotz meines Stolzes auf meine akademischen Bücher suchte ich nach einem neuen Weg, wollte für ein breiteres Publikum schreiben. André Schiffrin ermutigte mich dazu. So erschien 1994 „Greening International Law“ über Ökologie und Völkerrecht für ein breiteres Publikum. Nicht sehr erfolgreich. (lacht) Bei einer Dinnerparty von Julia Hobsbawm, Tochter des Historikers Eric Hobsbawm, saß ich neben einer Penguin-Verlegerin und erzählte ihr über Umwelt, Atomwaffen, Massenmord und Völkermord. Sie bot mir einen Vertrag für ein Buch über die Geschichte des internationalen Rechts für ein breites Publikum an. „Lawless World. America and the Making an Breaking of Global Rules“ erschien 2005. Danach kam „Toture Team. Rumsfeld’s Memo and the Betrayal of American Values“. Ich würde meine Bücher nicht als literarisch bezeichnen, aber die Qualität des Schreibens ist mir mindestens so wichtig wie der Inhalt. 2002 erhielt ich eine Einladung nach Lemberg. Danach fragte mich mein Lektor bei Penguin: „Was werden Sie als Nächstes tun?“ Ich präsentierte fünf Ideen, und er sagte: „Du musst über deine Familie und die Geschichte des internationalen Rechts in Lemberg schreiben.“ Genau das habe ich getan. Ironischerweise hat Penguin das Buch an den Verlag Weidenfeld & Nicholson verkauft.

Der Verleger George Weidenfeld wurde in Wien geboren, Eric Hobsbawm hat in Wien gelebt. Was bedeutet der Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandles für Sie?

Sands: Er ist für mich besonders bedeutsam, weil eine starke, sehr komplizierte Verbindung zu Wien gibt. Der Verlag Alfred A. Knopf in New York hatte meine „Rückkehr nach Lemberg“ gekauft und an Weidenfeld weiterverkauft. Verlegerin und Lektorin war Victoria Wilson. In deren Obhut gelang mir der Übergang vom Sachbuch zu dem, was die Deutschen „literarisches“ Sachbuch nennen. Ich habe an der „Rückkehr nach Lemberg“ sechs Jahre gearbeitet, es gab fünf verschiedene Entwürfe mit jeweils 150.000 Wörtern. Diese Verlegerin hat mir zu einer neuen Stimme verholfen.

Wie hat sich Ihr Bild von Österreich durch diese Bücher verändert?

Sands: Ich bin in einem Haushalt aufgewachsen, in dem wir nichts Deutsches haben durften. Das war verboten! (deutsch) Mit fünfzehn begann ich Fragen zu stellen, traf Deutsche und Österreicher und – hey! – fand sie ganz nett. So wollte ich alles verstehen. Trotzdem bin ich erst 1988 nach Wien gefahren, mit 27 Jahren. Nie in Deutschland gewesen, nie in Österreich. Aufgrund meines Buches war ich zum Rechtsberater der Greenpeace-Delegation ernannt worden, und kam so zur Internationalen Atomenergiebehörde nach Wien. Mit der dunklen Vorahnung dort überall Nazis zu sehen. Wahrscheinlich gab es ziemlich viele, aber ich war von der Stadt fasziniert, lief stundenlang umher und durch die Taborstraße, um das Haus meines Großvaters zu finden, in dem meine Mutter geboren worden war. Im Café Hawelka fühlte ich mich sehr unwohl, gleichzeitig liebte ich den Ort. Ich beschloss den Zug von Wien nach Paris zu nehmen, ganz spontan, ging zum Bahnhof und dachte, ich möchte die gleiche Reise machen wie mein Großvater auf der Flucht vor den Nazis. Wie meine Mutter, die damals ein Jahr alt gewesen war. Also nahm ich mir einen Liegewagen und lernte eine junge Frau kenne, eine Deutsche. Wir hatten eine Affäre. Irgendwie hatte alles mit meinen Fantasien über Wien und der Vergangenheit zu tun. Danach kam ich immer öfter nach Wien. Ich sage das jetzt mit großem Respekt: Meine Beziehung zu Österreich ist anders als die zu Deutschland. In Deutschland fühle ich mich sehr wohl. In Österreich spüre ich Ärger und tiefes Unbehagen. Warum ist das so? Ich glaube, es geht um die Auseinandersetzung mit der Geschichte hier.

Sie meinen den Opfermythos der Zweiten Republik?

Sands: Es hat mit der Generation zu tun, die meinte, Österreich sei das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen. Völliger Bullshit, wie wir wissen. Es ist die Unfähigkeit, ehrlich mit seiner Vergangenheit zu sein. Ich habe in Österreich viele gute Freunde, die sich zu dieser Geschichte bekennen. Aber als Land hat sich Österreich anders verhalten als Deutschland. Das macht es für mich noch schwieriger. Treffe ich für eine Buchrecherche eine Familie wie die von Otto von Wächter (SS-Führer, Gouverneur des Distrikts Krakau und später des Distrikts Galizien, gilt als Massenmörder), bin ich fasziniert. Ich habe Jahre in der Psychoanalyse verbracht, bin dadurch stärker und entspannter geworden. Aber es fasziniert mich, Menschen aus Familien zu treffen, die Schreckliches verbrochen haben. Niklas Frank, der Sohn des nationalsozialistischen Politikers Hans Frank, ist einer meiner besten Freunde. Ich bin von Horst, dem Sohn Otto Wächters, begeistert. Aber ich mag es nicht, dass er sich mit der Vergangenheit nicht auf ehrliche Weise auseinandergesetzt hat. Ich werfe Horst Wächter seinen Vater nicht vor, aber die Wächters verkörpern jenen Teil der österreichischen Gesellschaft, der nicht bereit ist, die Türen zur Vergangenheit aufzumachen.

Wird Wladimir Putin je vor einem internationalen Gerichtshof landen?

Sands: Wir wissen es nicht. Als sich 1942 Exilregierungen aus dem von den Nazis besetzten Europa in London trafen, beschlossen sie, dass die führenden Nazis vor Gericht gestellt werden sollen. Viele fanden das lächerlich, es würde nie passieren. Drei Jahre später fand der Nürnberger Prozess statt. Mitte der 1990er-Jahre hieß es, man würde eines Milosevic nie habhaft werden. Trotzdem kam es zu den jugoslawischen Kriegsverbrecherprozessen. Meine Ansicht hat sich seit Beginn dieses Kriegs geändert. Anfangs dachte ich, dazu wird es nie kommen. Ich halte es immer noch für unwahrscheinlich, aber es ist eine ganz und gar ernstzunehmende Möglichkeit. Man weiß nicht, wie sich die Dinge entwickeln. Immerhin sehen wir, dass Putin nicht nach Südafrika oder zu einem Treffen der G20 flog. Der Gegenstand des Völkerrechts ist sehr komplex. Es geht dabei um sehr technische Dinge. Schreibt man aber darüber auf lesbare und allgemein zugängliche Weise, interessieren sich die Menschen plötzlich dafür. Genau das geschieht derzeit mit dem Krieg in der Ukraine. Das Interesse an Kriegsverbrechen, und die Suche nach Gerechtigkeit haben große Resonanz. Das Projekt, an dem ich in den letzten Jahren mitgewirkt habe, ist die Bewahrung der Ideen des Jahres 1945.

Was ist damit gemeint?

Sands: Man hat sich 1945 um ein internationales Regelwerk für Gerechtigkeit bemüht. Es ist bei weitem nicht perfekt, aber heute bedroht. Der Sinn meines Schreibens besteht darin, Menschen dazu zu bringen, darüber nachzudenken, was 1945 erreicht wurde. Nach dem 11. September, dem Irak-Krieg und allem Folgenden habe ich eines verstanden: Es hat keinen Sinn, nur für ein akademisches Publikum zu schreiben. Man muss ein breiteres Publikum ansprechen. Es geht darum, Fragen des Völkerrechts und der internationalen Justiz für Menschen zugänglich zu machen, die davon üblicherweise ausgeschlossen sind, weil alles zu kompliziert ist. Ein Effekt meiner Bücher, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, ist die Korrespondenz, die ich seither führe. Ich bekomme wunderbare Briefe, nicht von Anwälten, nicht von internationalen Juristen oder Richtern, sondern von normalen Menschen. Sie beschreiben, wie sie etwas verstehen und bedanken sich dafür, dass sie nun einen Zugang zu dieser Welt haben. Ich bin dafür unendlich dankbar, ganz besonders auch den österreichischen Buchhändler:innen, die meine Bücher unter die Menschen bringen. Bei Leonard Cohen gibt es die Zeilen: „There is a crack in everything. That’s how the light gets in.“ Es gibt in allem einen Riss, durch den das Licht hereinkommt. Ich bin ein äußerst positiver Mensch, selbst in den dunkelsten Zeiten. Und ich glaube, wir leben in dunklen Zeiten.

Philippe Sands (c) Antonio Zazueta Olmos
(c) Antonio Zazueta Olmos
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