anzeiger 7/8/2022 – Beim Zeichnen bringe ich mich ein

Siebzig Bücher hat Linda Wolfsgruber schon illustriert und wurde dafür im In- und Ausland mit Preisen bedacht, jüngst mit dem Christine-Nöstlinger-Preis für Kinder- und Jugendliteratur. Was sie beim Zeichnen bewegt, wer ihre Vorbilder sind, und wie sie sich ihren jeweiligen Aufgaben nähert, erzählt sie in diesem Gespräch.


Interview: Erich Klein

Die Druckgrafikerin und Illustratorin Linda Wolfsgruber wurde am 5. Juni 1961 in Bruneck/Südtirol geboren. Von 1975 bis 1978 besuchte sie die Kunstschule in St. Ulrich in Gröden. Im Anschluss daran machte sie von 1978 bis 1980 eine Ausbildung zur Schriftsetzerin in München und Graphikerin in Bruneck. Von 1981 bis 1983 absolvierte sie die „Scuola del Libro“ in Urbino und begann danach ihre Arbeit als freischaffende Illustratorin und Graphikerin in Bruneck und Wien. Sie hat Bücher mit Heinz Janisch, Robert Schneider und Bodo Hell gemacht, Texte von HC Artmann, Hans Christian Andersen, Norbert C. Kaser und vielen andere illustriert. Nach zahlreichen in- und ausländischen Preisen für ihre Illustration von mehr als siebzig hauptsächlich Kinder- und Jugendbüchern erhielt sie 2022 den Christine-Nöstlinger-Preis für Kinder- und Jugendliteratur.

Frau Wolfsgruber, was war ihre erste Begegnung mit Literatur?
Linda Wolfsgruber: Meine Oma, die viele Dolomiten-Sagen auswendig konnte. Sie hat immer abends erzählt, das war mein erstes Leseerlebnis. Ich habe diese Geschichten später auch selbst gelesen, und kann mich an den Band mit sehr schönen Vignetten erinnern. Bilderbücher in dem Sinn hatten wir zu Hause gar nicht – abgesehen von Max und Moritz. Vermutlich gab es auch noch Grimms Märchen. Es gab bei uns noch die Tradition des Erzählens.

Daheim – das ist in Südtirol …
Wolfsgruber: Ja, ein kleines Dorf bei Bruneck. Mein Vater war Schmied. Er machte Kreuze für den Friedhof, Fenstergitter und solche Dinge, und war da recht talentiert. Die Mutter war Hausfrau. Vier Generationen haben in einem Haushalt zusammengewohnt. Ich bin selbst ein handwerklicher Mensch, arbeite gern mit den Händen und habe auch eine Affinität zu Eisen. Radierungen haben mit Metall zu tun und mit diesen Eisengeruch. Damit hole ich mir ein bisschen Handwerksatmosphäre zurück – in der Schmiede gab es auch ein Feuer.

Wann haben Sie zu zeichnen begonnen?
Wolfsgruber: Sehr früh, noch vor dem Lesen. Mein erstes Kinderbuch war „Florentine“ von James Krüss, da war ich acht oder neun. Aber ich habe schon vorher gezeichnet. Vielleicht auch durch meinen Vater bedingt, der zu Hause immer seine Entwürfe machte. Ich hatte dann großes Glück mit einer Lehrerin in der dritten Klasse Volksschule, die das gefördert hat. Sie erkannte, dass ich talentiert war und machte meine Eltern darauf aufmerksam. Sie meinte, das Mädchen sollte in diese Richtung gehen. Vermutlich war das auch für mein Selbstbewusstsein wichtig, dass jemand auf meine Sachen aufmerksam wurde und sagte: Das ist gut. Ab diesem Moment begann ich Zeichnen auch innerlich zu verfolgen. Ich hatte auch in der Mittelschule noch einmal Glück mit einer großartigen Kunstlehrerin. Schließlich wurde ich auch zuhause gefördert. Meine Eltern wollten unbedingt, dass ich eine höhere Schule besuche. Meine zwei Schwestern haben das verweigert.

Sie wurden Schriftsetzerin …
Wolfsgruber: Ich hatte eine Kunstschule absolviert, wusste dann aber noch nicht so recht, was daraus werden sollte. Zufällig bekam ich das Angebot, in einer Druckerei als Schriftsetzerin zu arbeiten. Das war eigentlich ein Missverständnis, aber ich dachte, gut, da geht es um Grafik. Grafik hatte damals einen ziemlichen Hype erlebt – die Kombination von Text und Grafik. Zuerst ging es an ganz trockenes Lernen, danach habe ich drei Jahre in dieser Firma gearbeitet. Ich war dort für Plakate zuständig, man ließ mir auch ziemlich viel Freiraum. Ich hatte damals auch sehr viel gezeichnet. Dennoch saß ich jeden Tag fast acht Stunden an der Maschine. Bald wurde mir klar, dass es nicht das war, was ich anstrebte.

Als gelernte Schriftsetzerin kennen Sie die Faszination von Buchstaben, von Buchstabengestaltung …
Wolfsgruber: Natürlich! Deshalb ist es mir bei Büchern immer auch so wichtig, welche Schrift verwendet wird. ein A kann hässlich, oder in seiner Einfachheit wunderschön sein. Ich hatte nicht mehr in Blei gesetzt, sondern mit Typekit, dabei wurde wie in der Fotografie belichtet. Früher waren die Lettern teuer, weshalb Zeitungen und Schriftsetzer nur mit zwei Charakteren gearbeitet haben. Heute kann man mit dem Computer alles zusammenmischen. An einer Dokumentation über die Schrift auf „Arte“ hat mich fasziniert, wie der Mensch dazu gekommen ist, zu schreiben. Kam er vom Zeichnen dazu? Aus einem ägyptischen Kopf zum A. Das ist fast in jeder Sprache so. Ich habe drei Bücher mit einem Alphabet gemacht. Was ist der Sinn des Buchstabens? Es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten an diese Frage heranzugehen! Als Zeichnerin beschäftige ich mich ja hauptsächlich mit Büchern. Da ist Beides drinnen, die Buchstaben und die Zeichnungen. Man kann auch Silent Books ohne Buchstaben machen, aber ich finde die Verbindung von Worten und Bildern schon sehr spannend.

Sie haben siebzig Bücher geschaffen. Wie geht das in der Praxis vor sich? Bekommen Sie eine Geschichte oder Gedichte, und Sie illustrieren dann, oder stehen am Anfang die Bilder?
Wolfsgruber: Beides ist möglich. Normalerweise kriege ich vom Verlag einen Text und da ist schon klar, dass die Literat:innen einverstanden sind, dass ich das mache. Es gibt aber auch die andere Möglichkeit: Ich habe gerade ein Buch ohne Worte gemacht. Der Verlag hat dazu vorgeschlagen, einen Autor einzuladen, von dem sie glauben, dass er mit meinen Bildern etwas anfangen kann. Ich warte jetzt auf den ersten Text und bin neugierig, was da kommt.

Meistens aber gehen Sie von einem Text aus …
Wolfsgruber: Ich mache gerade ein Buch mit Bodo Hell über Bäume, in dem sehr viel aufgezählt wird. Ich wollte dabei nicht direkt botanisch vorgehen, sondern mit der Zeichnung eine Art Echo auf seine Sprache finden. Es wäre falsch, einfach nur irgendeinen Baum genau zu zeichnen. Der Text hat ja auch etwas Humorvolles, und ich versuche, das aufzugreifen und zu interpretieren. Oft konzentriere ich mich dabei auf Sätze, die sie wie nebenbei im Text stehen, und auf die vielleicht gar nicht großes Augenmerk gelegt wird. Da geht es zum Beispiel um Wild, und in einem Nebensatz ist von der Futtersuche die Rede – genau an diesem Punkt bin ich mit der Zeichnung eingestiegen.

Machen wir die Probe aufs Exempel: Wie würden Sie „die Welt“ zeichnen? Oder, um einen poetischen Ausdruck zu gebrauchen, das „Antlitz der Welt“?
Wolfsgruber: Ich habe tatsächlich gerade etwas dieser Art gemacht. Es ging um eine Bild, das mit der Schöpfung der Welt zu tun hat. Ich habe mich gefragt, wie stelle ich einen Menschen dar, ohne die Welt draußen zu lassen? Ich habe dann nur die Silhouetten von zwei Menschen gezeichnet. Was ich damit sagen will: Die Welt sind wir selbst, die Welt ist in uns, und wir sind nicht ohne die Welt (lacht).

Und eine „lachende Wiese“ würde wie ausschauen?
Wolfsgruber: Ich würde nur mit verschiedenen Grüntönen arbeiten – nichts Formales, sondern viel eher nur das Gefühl von Grün. Ich glaube, das wäre mein Zugang. Weg vom Figurativen. Das wäre zu banal.

Die Welt, die Sie zeichnen, ist eine Welt des Staunens …
Wolfsgruber: Ja, weil ich selbst staune. Ich finde das Beobachten oder das Schauen faszinierend. Für mich wäre das Schlimmste nicht mehr zu sehen, schlimmer als nicht mehr zu hören. Ich brauche das auch, um etwas wiederzugeben. Manche denken, wenn man gut zeichnen kann, hat man das im Kopf, und es kommt dann so einfach raus. Das stimmt natürlich nicht. Ich muss zuerst schauen. Vielleicht kommt das Staunen auch daher, weil ich von vielen Sachen nichts weiß, wenn ich sie zeichnen soll. Irgendwann kommt auch immer der Aha-Effekt. Aha – schaut das jetzt wirklich so aus, oder nicht? Man lernt dabei sehr viel. Ich komme oft in Bereiche, mit denen ich mich gar nicht befassen würde. Durch das genaue Hinschauen eröffnet sich wieder eine Welt.

Ihr Zeichnen hat sich im Laufe der Zeit sehr stark verändert. Die Bücher sind sehr unterschiedlich.
Wolfsgruber: Ich spreche jetzt nicht vom Zeichnen an sich, das nicht unbedingt in Bezug zu einem Text steht, sondern vom Zeichnen nur für mich selbst. Ich habe gemerkt, dass ich immer mehr Freiheit erreiche, je mehr ich weiß, auch was das Technische betrifft. Ich habe meinen Stil immer wieder gewechselt, weil es mir langweilig war, oder weil ich was Neues wollte. Das gelang nur, wenn ich eine neue Technik sehr gut kann. Um ein Beispiel zu geben: Ich weiß, wie Perspektive funktioniert, weshalb ich mir auch erlauben kann, sie so zu zeichnen, dass sie nicht ganz stimmt. Ich baue nicht absichtlich Fehler ein – das wäre nur komisch. Aber ich kann das Ganze ein bisschen verrücken und anders gestalten. In diesem Moment wird die Zeichnung nicht nur für mich freier, das gilt auch für den Betrachter. Ich zeichne noch immer sehr viel und sehr gern nach der Natur, das ist für mich Erholung. Ich werde gedanklich frei, weil ich mir die Form genau anschaue und sonst gar nichts. Ich interpretiere nicht, sondern nehme nur das auf, was mir die Natur oder das Objekt bietet. Mit diesem Verstehen der Formen werde ich frei, erst dann kann ich sie neu interpretieren. Aber zuerst muss ich sie auch verstanden haben.

Was war die schwierigste Aufgabe beim Illustrieren eines Buches?
Wolfsgruber: Ganz zu Anfang gab es ein Buch, dessen Text mir sehr gut gefiel, aber es gab viel Beschreibung. Ich wusste nicht, wo ich ansetzen kann, wohin es gehen kann. Ich wollte ja nicht den ganzen Text wiederholen. Die Personenbeschreibung gab genau vor, wie ein Pullover aussieht, die Farbe, dass es sich um einen Strickpullover handelt, und so weiter. Dass Reduktion sehr wichtig ist, wurde mir erst schrittweise klar, aber man lernt ja auch. Das Tiroler Dorf, in dem die Geschichte spielt, war ebenfalls genau beschrieben, der Wald und die ganze Umgebung. Ich habe dann die Wiese dazwischen genommen, wo nichts war, und die zwei Figuren hineingestellt. Unten sieht man nur Kamine, aus denen Rauch aufsteigt – es ist Winter, Dezember. Ich musste diese Zwischenräume erst finden, um mein Bild darzustellen.

Buchillustration war einmal eine Genre, das es heute fast nur noch in Kinderbüchern gibt…
Wolfsgruber: Dieser Zeit trauere ich nach, weil ich das Genre sehr spannend finde. Manche sagen, man sollte Literatur überhaupt nicht illustrieren oder bebildern, weil die Bilder ohnedies im Kopf entstehen. Ich finde es trotzdem großartig, wenn auch Bilder zu Texten kommen. Man sprach einst vom „Illuminieren“ der handgeschriebenen Bücher. Das ist ein sehr schönes Wort – „beleuchten“, „Licht geben“. Das gab es im Orient oder auch im Mittelalter, als Buchstaben mit Ornamenten versehen wurden. Oder die Bücher der Wiener Werkstätte …

Welche Künstler waren für Sie als Illustratorin wichtig?
Wolfsgruber: Ganz unterschiedliche. Ich schaue mir sehr viele Ausstellungen an, und gehe dann oft mehrmals hin. William Kentridge mag ich sehr gern. Er war für mich eine Entdeckung: Bei der Biennale in Venedig sh ich einen kleinen Film. Seine Ausstellung in der Albertina vor etlichen Jahren habe ich mir viermal angeschaut. Auch die Alten Meister waren für mich wichtig. Der Barockmaler Paul Troger etwa, der aus Welsberg in Südtirol kommt, und hauptsächlich in Österreich gewirkt hat. Schauen Sie sich seine großartigen Helden an, und wie er mit Komplementärem spielt! Wie macht er das? Als ich von der Kunstschule kam, habe ich ein bisschen expressiv gezeichnet – das war von Illustration noch weit entfernt. Ich habe dann viel aus Büchern gelernt, auch was die Technik betrifft. Tomi Ungerer ist ein Vorbild. Sein Buch „Kein Kuss für Mutter“, es ist nur mit Bleistift gezeichnet, war eines meiner Lieblingsbücher. Seine Katzen sind wunderbar berührend!

Wer „berührt“ Sie – wenn Sie den Ausdruck schon verwenden?
Wolfsgruber: Da gibt es einige. Vom Zeichnen her hat mir der vor zwei Jahren verstorbene Südtiroler Markus Vallazza viel bedeutet. Ich habe ihn auch persönlich gut gekannt, er hat im Katalog zu einer meiner ersten Ausstellungen geschrieben. Das war ganz am Anfang, ich war zwanzig, und er gab mir gute Impulse bezüglich der Freiheit des Zeichnens. Ich zeigte ihm ein Skizzenbuch mit sehr akribischen Zeichnungen, und auf einer Seite befand sich ein ungewollter Klecks. Er sagte über dieses Blatt „Das ist gut zu dieser Zeichnung“. Diese Bemerkung hat etwas bewirkt, ich dachte: Aha, der Klecks ist gut! Ich habe dadurch gelernt, dass nicht alles perfekt sein muss. Es kann auch ein bisschen schmuddelig oder schlampig sein, es darf viel mehr Gefühl dabei sein.

Ein beliebtes Genre der Zeichnung ist die Karikatur – was halten Sie davon?
Wolfsgruber: Ich kann das nicht. Es ist auch nichts, was mich reizt. Aber ich bin immer erfreut, wenn man in der Zeitung gelungene Sachen findet. Du musst gut informiert sein, um gute Karikaturen zu machen, Tag für Tag. Und du musst der Zeit dabei ein bisschen voraus sein. Einfach nachzeichnen, wenn es Probleme gibt, macht noch keine Karikatur aus.

Ich meine das Thema Krieg. In der Ukraine zeichnen die Kinder gerade Panzer, Flugzeuge und zerbombte Häuser …
Wolfsgruber: Ich bereite gerade einen Zeichnen-Workshop zum Thema „Grenze“ vor. Das wurde schon länger geplant, und nach Ausbruch des Kriegs in der Ukraine habe ich bei den Organisator:innen nachgefragt, ob der Workshop auch politisch sein darf. Sie haben gemeint: unbedingt. Wie man dieses Thema „Krieg“ oder „Grenze“ darstellt, weiß ich noch nicht. Ich habe mich diesen Themen noch nie gewidmet, und bin sehr gespannt, was dabei herauskommt. Wir gehören ja einer Generation an, die keinen Krieg erlebt hat. Im Fall meiner heute neunzigjährigen Mutter war das noch ganz anders. Sie sagte früher manchmal „Ihr könnt da eh nicht mitreden, ihr habt das nicht erlebt!“ Ich habe immer gedacht, es ist eigenartig, dass sie das so sagt. Später wurde mir klar, dass sie dabei gar nicht auf etwas stolz war. Gott sei Dank, konnten wir da nicht mitreden …

Könnten Sie Ihre Autobiografie zeichnen?
Nein, das würde mich auch nicht interessieren. Ich habe es schon als Kind gehasst, Tagebuch zu schreiben. Ich mag das alles nicht. Ich habe lieber über anderes gelesen – Dinge, die von außen kamen. Wenn ich zeichne, bringe ich mich ja sowieso selbst ein.

Wenn man Sie nach Ihrem Beruf frag, was sagen Sie?
Wolfsgruber: Dann sage ich meistens freischaffende Künstlerin, Schwerpunkt Illustration.

Wie schwer ist es als Illustratorin von Büchern finanziell zu überleben?
Wolfsgruber: Wenn es darum ginge, rein von den Büchern zu leben, dann wäre es so lala. Aber ich habe mehrere Standbeine und mache viele Workshops – damit geht das ganz gut.

Bleibt nur noch die Frage nach Ihrer Lieblingsbuchhandlung …
Wolfsgruber: Die Buchhandlung Riedl auf der Alser Straße in Wien. Ich habe früher in der Nähe gewohnt und irgendwie bin ich ihnen treu geblieben. Ich bestelle nicht über Amazon.

(c) Nini Tschavoll
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