anzeiger 6/23 – Die Riesenbiene in Frankfurt

Diese Jahr ist Slowenien Ehrengast bei der Frankfurter Buchmesse. Das Land will seine Literatur im deutschprachigen Raum und international bekannter machen. Ein Blick auf den slowenischen Buchmarkt.

Text: Linn Ritsch
Illustrationen: Georg Feierfeil

Beseda“ heißt „Wort“ auf Slowenisch. Die Literatur des kleinen Landes ist voll mit diesem Wort, vor allem die Dichtung. „Das Wort Wort kommt in keiner anderen Nationalliteratur so oft vor wie in der slowenischen. Das ist wirklich auffällig“, sagt Matthias Göritz. Er ist Schriftsteller und Übersetzer aus dem Englischen und Slowenischen. In der slowenischen Kultur gebe es eine „Sprach­besessenheit“. Die Sprache sei einer der wichtigsten Träger der slowenischen Identität. „Das merkt man vor allem an der Lyrikszene, die extrem lebendig ist.“ Auch die Off-Szene: Es kommt in Ljubljana durchaus vor, dass vor einem Konzert eine Dichterin ihre Texte vorträgt oder eine Punkband Gedichte eines jungen Poeten vertont.
In diesem Jahr will die slowenische Sprachkunst internationale Aufmerksamkeit erregen. Mit einem Großevent, das in der Buchbranche seit drei Jahren vorbereitet wird: dem Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse. Auch Göritz ist an Organisation und Kuration beteiligt. Der Plan des Gastlandes: slowenische Autor:innen in Deutschland bekannt zu machen, Übersetzungen zu fördern, slowenische Poesie in die Welt zu tragen – und eine riesige Biene nach Frankfurt zu bringen.

DICHTERISCHER ANSPRUCH UND FINANZIELLE WIRKLICHKEIT
Die Liebe zur Poesie ist in Slowenien historisch begründet. Der Bienenbezug auch, doch dazu später mehr. Erst seit knapp dreißig Jahren gibt es den slowenischen Staat. Jahrhundertelang wurden nationale Identität und Zusammengehörigkeitsgefühl über die gemeinsame Sprache erreicht. Ausdruck fand sie vor allem in der Poesie. In Gedichten und Liedern konnte vieles verschlüsselt kommuniziert werden. „Wir haben lange unter fremden Regimen gelebt, das war es nicht immer empfehlenswert, die Wahrheit zu sagen“, erklärt Amalija Maček. Sie ist Über-’setzerin, Dolmetscherin und Programmberaterin des slowenischen Gastlandauftritts. „Wir haben gelernt, in Andeutungen und Chiffren zu sprechen. Slowenische Lyrik ist oft eine Lyrik des Widerstandes.“
Bis heute ist das nationale Selbstverständnis eng mit der nationalen Dichtung verbunden: 1844 schrieb der Dichter France Prešeren (1800–1848) „Zdravljica“ (dt. etwa „Toast“ oder „Prosit“). Darin sehnt er die Freiheit aller Slowenen herbei. Die Erfüllung des Traumes erlebte er nicht mehr. Doch am 25. Juni 1991 wurde das Land unabhängig – und die siebte Strophe seines berühmten Gedichtes zur slowenischen Nationalhymne. Sein Todestag, der 8. Februar, ist heute ein gesetzlicher Feiertag.
Trotzdem hat man es als Dichter:in in Slowenien finanziell nicht leichter als im Rest der Welt. Literarischer Nationalstolz und ökonomische Wirklichkeit klaffen auseinander. Dazwischen liegen staatliche Förderungen und die Streitigkeiten darum. Mag die Lyrikszene in Slowenien lebendig und dynamisch sein, so ist sie doch klein. Anspruchsvolle Literatur finanziert sich nur in Ausnahmefällen selbst, etwa die Hälfte aller slowenischen Buchpublikationen wird staatlich unterstützt.

MEHR NEUERSCHEINUNGEN ALS IN FRANKREICH – PROZENTUELL
Finanziert wird vor allem die Publikation von Romanen. Kulturhistorische und politische Themen haben das Nachsehen. „Dabei ist es für das Selbstverständnis der Slowen:innen und ihre Identität wichtig, die eigene Geschichte zu verstehen“, sagt Lojze Wieser, Verleger des österreichischen Wieser Verlags. Um die Dichtung steht es nicht viel besser. Unter den 450 Büchern, die im vergangenen Jahr vom Staat kofinanziert wurden, waren acht Gedichtbände. „Slowenische Verleger:innen trauen sich kaum, Gedichtbände zur Förderung einzureichen“, erzählt Orlando Ursič. „Es wird einfach zu viel produziert.“ Als Verleger des kleinen Mariborer Literaturverlags Litera weiß er, wovon er spricht.
Das Land weist eine hohe Dichte an Poet:innen auf; durchschnittlich kommt fast an jedem Tag des Jahres ein neuer ­Gedichtband auf den Markt. So viel Lyrik ist selbst für Slowen:innen zu viel. „Es ist natürlich wunderbar, dass wir so viele Poet:innen haben“, sagt Maček. Auffallend sei, dass sich in Slowenien zahlreiche junge Menschen für Lyrik interessieren und selbst dichten. „An dem Projekt ‚Junge Reime‘ nehmen sehr viele Studierende teil, im Moment haben wir vor allem vielsprechende junge Frauen.“
Ebenso jung wie die Literat:innen ist der slowenische Staat. 32 Jahre nach seiner Gründung ist seine Literaturszene noch in der „Selbstfindungsphase“, meint Urisč. Für den Buchmarkt war die Unabhängigkeit ein Schock. Plötzlich war man nicht mehr Teil eines großen Staatsgebietes, sondern ein sehr kleines Land. „Jugoslawien war ein riesiger Markt mit vielen großen Verlagshäusern, die jedes Jahr Hunderte Bücher produzierten“, erklärt der Verleger.
Heute leben in Slowenien zwei Millionen Menschen. Jährlich kommen etwa 3.500 Neuerscheinungen auf den Handelsmarkt, das ist im Verhältnis zur Einwohnerzahl deutlich mehr als etwa in Frankreich oder Deutschland. Die Auflagen sind aber gering: Tausend Bücher sind schon eine sehr hohe Auflage, 10.000 Exemplare gibt es nur bei den größten Bestsellern.

DER BIBLIOBUS KOMMT AUCH NACH OBERKRAIN
Bücher kaufen ist in Slowenien weniger beliebt als Bücher ausleihen. Auch das hat historische Gründe: Jahrhundertelang lebte die Mehrheit der Bevölkerung in Städten mit weniger als 5.000 Einwohner:innen, eine Buchhandlung zu eröffnen hätte sich wirtschaftlich nicht rentiert. Bücher wurden über den Tür-zu-Tür-Verkauf oder über Versandhandel vertrieben.
Die Gewinner waren die Büchereien. Sie florieren bis heute, sind stets mit den wichtigsten Neuerscheinungen ausgestattet und erfreuen sich zahlreicher Nutzer:innen. In die örtliche Bibliothek zu gehen ist beliebt, denn neben Büchern gibt es dort auch Veranstaltungen zu literarischen und anderen Themen. Außerdem ist es praktisch: Das Büchereinetz ist hervorragend ausgebaut. In die allerentferntesten Winkel kommen fahrende Bibliotheken, sogenannte Bibliobusse.
Wer in seinem kleinen Heimatdorf einmal nicht den gewünschten Nischentitel findet, ist zunächst überrascht, muss sich aber nicht weiter grämen: Das Buch wird bestellt und ist innerhalb weniger Tage abholbereit. Jede fünfte Person in Slowenien besitzt einen Bibliotheksausweis, statistisch gesehen gibt es also mindestens einen pro Familie. Eine durchschnittliche Slowenin leiht pro Jahr elf Bücher aus – im Vergleich zu zwei Buchkäufen pro Kopf im Jahr.
Für die Verlage ist das ein zweischneidiges Schwert: Die (staatlich finanzierten) Ankäufe durch Bibliotheken sorgen zwar für ein stabiles und berechenbares Grundeinkommen – besonders hoch ist es allerdings nicht. Gerade die E-Book-Leihe ist problematisch: „Verleger:innen haben einfach nicht gut mit den Büchereien verhandelt“, erklärt Miha Kovač, Universitätsprofessor für Bibliotheks- und Buchwissenschaft in Ljubljana und Kurator des Gastlandauftritts in Frankfurt. Bibliotheken müssen erst nach jedem fünfzigsten ausgeliehenen Buch eine Lizenz bezahlen – kein gutes Geschäft, sagt Kovač.
Bücher über die stationären Buchhandlungen des Landes zu vertreiben, ist auch nicht viel besser, jedenfalls nicht für die kleinen Verlage. In Slowenien gibt es zwei große Buchhandelsketten, die den größten Verlagen des Landes gehören. Der Gigant ist Mladinska knjiga: Das Verlagshaus veröffentlichte 2021 über 600 neue Titel und Nachdrucke. Sie liegen gut platziert und für einen langen Zeitraum in der hauseigenen Buchhandlung auf. Das Interesse, Titel anderer Verlage zu verkaufen, ist bei Mladinska knjiga dagegen überschaubar.
„Und die Zahl unabhängiger Buchhandlungen ist geringer als die Zahl der Finger an zwei Händen“, sagt Kovač. Kleinere Verlage behelfen sich mit Onlineshops, über die sie in der Regel mehr als die Hälfte ihres Umsatzes erzielen.

SLOWENISCH IN KÄRNTEN, TRIEST UND AUßERHALB
Onlineshop oder nicht, die insgesamt 1.400 slowenischen Verlage können die Nach­frage der heimischen Bevölkerung nicht ab­decken. Wie alle kleinen Buchmärkte ist Slowenien stark von Übersetzungen abhängig. 1991 wurde der Zugang zu urheberrechtlich geschützten Werken wesentlich einfacher. Seither macht die Zahl der Übersetzungen in Slowenien etwa ein Drittel der gesamten Buchproduktion aus. Vor allem in den populären Genres sind die Übersetzungen zahlreich: Krimis und Romantasy werden oft importiert.
Umgekehrt exportiert Slowenien hauptsächlich die Gattung, die am stärksten in der literarischen Tradition verankert und in der Slowenien es Literaturexpert:innen zufolge zur Meisterschaft gebracht hat: Gedichte.
Doch die Verbreitung slowenischer Lyrik stößt auf allerlei Hindernisse. Derzeit erreichen noch viel zu wenige Gedichte den internationalen Markt, darin ist man sich in Literaturkreisen einig. Übersetzungen sind teuer, Übersetzer:innen unterbezahlt und überbeansprucht, erzählt Matthias Göritz. „Ich werde selbst ständig gefragt, ob ich nicht mehr übersetzen kann. Es gibt einfach nicht genug Leute in diesem Beruf.“
Für die Verbreitung slowenischer Literatur spielen auch jene Autor:innen und Verlage, die außerhalb Sloweniens ansässig sind, eine große Rolle. Slowenische Literatur, erklärt die Verlegerin Martina Kafol, könne nicht auf das Staatsgebiet beschränkt werden. Ihr Verlag befindet sich in einem wichtigen Zentrum slowenischer Kultur – im norditalienischen Triest. „Man kann unseren Buchmarkt in zwei Teile teilen: jenen in Slowenien und jenen im Ausland.“ Letzterer ist vor allem in Regionen in Italien, Ungarn und Österreich beheimatet.
In diesen Ländern gibt es jeweils mehrere Verlage, die slowenische Bücher publizieren, auf Slowenisch und in den Landessprachen. Für die slowenische Literatur sind sie von großer Bedeutung. Nicht nur, was Kulturvermittlung und Übersetzungen betrifft: Hermagoras ist der älteste slowenische Verlag, 1851 von Priestern in Klagenfurt gegründet. Heute verlegt er Bücher in slowenischer und deutscher Sprache. Ähnliche Pionierarbeit leisteten der Drava Verlag seit 1980 und der 1987 gegründete Wieser Verlag. Kärnten und Triest zählten zu den wichtigsten Zentren slowenischer Buchproduktion, lange bevor es den slowenischen Staat gab.
„Nach der Staatsgründung 1991 hat man oft genug das Gefühl, dass man sich innerhalb Sloweniens selbst genug ist. Deutlich sichtbar wird es in den letzten zehn Jahren“, sagt Wieser. Dabei wäre die Vielfalt, die diese Verbindungen mit anderen Ländern bringen, eine Chance, meint Kafol. „Es gibt nicht nur eine ‚slowenische‘ Kultur und Literatur. Aber ich fürchte, das wird in Frankfurt nicht deutlich werden. Da wird es den Monolith Slowenien geben.“

DIE GEHEIMNISUMWITTERTEN BIENEN IN FRANKFURT
Zumindest in sprachlicher Hinsicht wird der slowenische Gastlandauftritt in Frankfurt aber eine Demonstration der Offenheit und des Austausches. Während der letzten drei Jahre wurden so viele Titel ins Deutsche übersetzt wie noch nie. Man will dem deutschen Markt die literarische Vielfalt des Landes schmackhaft machen und die Tür für weitere Übersetzungen weit auf­stoßen. Dabei helfen Autor:innen, die in beiden Sprachen schreiben oder in Österreich und Deutschland leben, ihre Texte aber auf Slowenisch veröffentlichen. Ana Marwan etwa, einer der österreichischen Stars in Leipzig, wird jetzt zum slowenischen Star in Frankfurt.
Die größten Stars des slowenischen Gastlandauftritts sind Bienen. „Waben der Worte“ ist das geheimnisvolle Motto des Projekts.“ Warum das so ist, war zeitweise unklar: Nach seinem Abtritt hat der ehemalige Präsident und vorherige Kurator des Gastlandauftritts der slowenischen Buchagentur keinen Hinweis auf die Bedeutung hinter diesem Claim hinterlassen.
Slowenien ist ein Bienenland, so viel war klar. Bienenzucht hat dort Tradition, bereits in der k. u. k. Monarchie kam der Honig für die kaiserliche Frühstückssemmel von Züchter:innen aus dieser Region. Seit 2018 gibt es außerdem den Weltbienentag: Der 24. Mai ist der Geburtstag des Slowenen Anton Janša, Hofimkermeister von Maria Theresia.
Es musste nur noch der Grund gefunden werden, aus dem die Biene das literarische Wappentier in Leipzig wurde. Kovač fand einen: „Slowenien hat geografisch eine sehr privilegierte Position in Europa. Wir befinden uns genau im Zentrum, an einem Schnittpunkt mehrerer wichtiger Kultur- und Sprachfamilien.“ Das spiegle sich in der slowenischen Literatur wider. Erst durch die Vereinigung verschiedener Einflüsse könne sie zu dem werden, was sie ist. „Wir verstehen uns als fleißige Bienen, die zu all diesen verschiedenen Sprachen und Kulturen fliegen und die Ideen zurücktransportieren und unseren besonderen Honig machen.“
Ob sich auch die riesige Biene des slowenischen Imkerverbandes in Ljubljana nach Frankfurt transportieren lässt, ist noch nicht ganz sicher. Für Miha Kovač wäre es jedenfalls die Erfüllung eines Traumes: „Wir wollen sie vor dem slowenischen Pavillon aufbauen und den Platz so zu einem Instagram-Hotspot machen!“

SLOWEN:INNEN, VEREINT EUCH!
Frankfurt soll zu einem Wendepunkt für den Buchmarkt Sloweniens werden. Das könne gelingen, sagt Kovač, aber nicht von einem Tag auf den anderen. Der Gastlandauftritt muss Lust auf mehr slowenische Literatur machen. „Die Übersetzungsdaten zeigen, dass wir etwa vierzig bis fünfzig Titel pro Jahr produzieren, die für den deutschsprachigen und internationalen Markt interessant sind. Ich träume davon, dass in ein paar Jahren die Zahl gleich bleibt, aber der Umsatz im Rechteverkauf steigt.“
Im Vorfeld des Gastlandauftritts hat sich bereits viel getan, einige Titel haben den Sprung vom österreichischen in den viel größeren deutschen Markt geschafft, werden dort verlegt und verkauft. Wichtige Schritte, meint Matthias Göritz, aber es gibt noch viel zu tun: Vor allem müssten die Übersetzungsförderungen erhöht sowie Übersetzer:innen besser ausgebildet und bezahlt werden. Sie seien die eigentlichen Held:innen dieses Gastlandprojekts.
Und natürlich ist da die historisch und geografisch komplizierte Identität des Landes. Sie macht die Präsentation der slowenischen Literatur nicht einfacher. „Bisher ist es nicht gelungen, eine Kontinuität des literarischen Schaffens über die Jahrhunderte darzustellen“, sagt Lojze Wieser. „Erst wenn das glückt, wird die slowenische Literatur international eine Rolle spielen und nicht mehr verdrängt werden.“ Vernetzung und ein Gemeinschaftsgefühl sind also entscheidend: über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg. Gut, dass es in Slowenien so viele Bienen gibt, die nach ganz Europa ausschwärmen. Zum Beispiel nach Frankfurt.

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