anzeiger 2/24 – Von wegen FLACH

Die Niederlande und Flandern sind Guest of Honor auf der Leipziger Buchmesse 2024. Vom 21. bis 24. März präsentiert das Gastland junge literarische Stimmen sowie Übersetzer:innen und zeigt, was virtuelle Literatur kann.

Interview: Linn Ritsch.

Literatur in niederländischer Sprache? Vielseitig, kritisch, voll weiblicher Stimmen und mutiger Texte für Kinder und Jugendliche. Das möchte das Gastland auf der Leipziger Buchmesse unter dem Motto „Alles außer flach!“ zeigen. Der Auftritt soll zeitgenössische flämische und niederländische Texte im deutschsprachigen Raum bekannter machen. Außerdem geht es um Freundschaft zwischen verschiedenen Kulturen, Sprachen, Leser:innen und Autor:innen, erklärt Margot Dijkgraaf, Literaturkritikerin und Autorin. Sie lebt in Amsterdam und ist Expertin für literarische Strömungen in ihrem Heimatland. Gemeinsam mit der deutschen Autorin und Journalistin Bettina Baltschev hat sie den Gastlandauftritt kuratiert.

Frau Dijkgraaf, das Motto des niederländisch-flämischen Gastlandauftritts „Alles außer flach!“ klingt nach einem witzigen Spiel mit Klischees.

Margot Dijkgraaf – Die Idee für das Motto ist tatsächlich aus der Diskrepanz zwischen dem klischeehaften Image der Niederlande und der literarischen Realität entstanden. Über uns wird gesagt, wir seien ruhig, freundlich und zurückhaltend. Aber wenn man Literatur aus unserem Land liest, erschließt sich unsere Identität besser: Diese Literatur ist kritisch, voller Tränen und Engagement und Aktualität. Gerade zeitgenössische Schriftsteller:innen setzen sich mit Themen wie Kolonialismus, Sklaverei, Genderfragen, Politik und der Klimakrise auseinander.

Themen, die auf der ganzen Welt von Bedeutung sind. Interkultureller und internationaler Austausch sind auch zentrale Anliegen beim Gastlandauftritt …

Dijkgraaf – Ich glaube, dass Literatur ein Fenster in die Welt ist. Sie erlaubt uns Einblicke in andere Kulturen und fördert gegenseitiges Verständnis. Das halte ich gerade jetzt, da es so viele Konflikte gibt, für besonders wichtig. Ich glaube, dass die Literatur Freundschaften entstehen lassen und vertiefen kann. Deswegen haben wir im Rahmen des Gastlandauftritts ein Freundschaftsprojekt. Es heißt „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“. Wir luden drei Autor:innen aus Leipzig, zwei aus den Niederlanden und einen aus Flandern ein, einander Briefe zu schreiben. Sie wurden dann bei einer Abendveranstaltung in Leipzig präsentiert, zu der wir junge Menschen aus Deutschland, den Niederlanden und Flandern eingeladen hatten. Es war ein großer Erfolg, viele sind gekommen. Ich hoffe, dass dadurch Netzwerke und neue internationale Freundschaften entstanden sind. Solche Abende wird es auch in Amsterdam und Antwerpen geben.

Apropos Netzwerk. Wie steht es derzeit um den literarischen Transfer zwischen dem deutschsprachigen Raum und den Niederlanden und Flandern?

Dijkgraaf – Ich denke, dass Literatur aus dem niederländischen Sprachraum im DACH-Raum durchaus präsent ist. Der niederländische Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse 2016 hat viel bewirkt. Bekannt ist aber vor allem eine ältere Generation von Autor:innen – und seit 2016 hat sich die Welt sehr verändert. Jetzt haben wir neue, junge Schriftsteller:innen, die über neue Themen schreiben. Raoul de Jong etwa schreibt auf persönlicher Ebene über die koloniale Vergangenheit der Niederlande. Der Vater des Autors stammt aus der ehemaligen Kolonie Surinam. Wir haben auch besonders viele starke weibliche Stimmen: So wird sich das niederländisch-flämische Autorinnenkollektiv Fixdit in Berlin vorstellen. Die Mitglieder wollen die anhaltende Unterrepräsentation schreibender Frauen „fixen“.

Beobachten Sie auch formal neue Trends in der Literatur Ihres Heimatlandes?

Dijkgraaf – Mir fällt auf, dass sich die Arbeitsweise vieler Autor:innen verändert hat: Sie ist formal grenzüberschreitend. Statt „nur“ Literatur zu schreiben, machen sie auch Podcasts, beschäftigen sich mit Musik und Tanz. Zum Beispiel die Autorin Gaea Schoeters: Sie ist im Theater aktiv, schreibt Romane, Poesie, Libretti, Drehbücher und journalistische Texte. Kürzlich ist ihr großartiger Roman „Trophäen“ auf Deutsch erschienen. Viele Schriftsteller:innen schreiben auch Texte, die sich nicht mehr einfach einem Genre zuordnen lassen. Sie sind ein bisschen Roman, ein bisschen Gedicht, ein bisschen Essay.

Schoeters stammt aus Flandern. Gibt es einen Unterschied zwischen niederländischer und flämischer Literatur?

Dijkgraaf – Die gemeinsame Sprache verbindet uns sehr, wir teilen daher auch den Buchmarkt: Die meisten flämischen Autor:innen publizieren in niederländischen Verlagen. Es gibt eine sehr lebhafte literarische Kultur in Flandern wie in den Niederlanden. Ich würde sagen, dass flämische Literatur oft besonders poetisch ist, vielleicht weil hier französische Einflüsse eine größere Rolle spielen. Grundsätzlich müssen die flämische und die niederländische Buchbranche zusammenhalten: Wir haben insgesamt nur etwa 23 Millionen Muttersprachler:innen, der Markt ist also vergleichsweise klein.

Daher ist Übersetzung ein besonders wichtiges Thema. Darauf legen Sie auch beim Gastlandauftritt einen Fokus …

Dijkgraaf – Ja, Übersetzungen sind für uns besonders wichtig, um andere Märkte zu erschließen. Ohne die Übersetzer:innen würde die niederländische und flämische Literatur überhaupt nicht über die Grenze kommen. Das möchten wir in Leipzig sichtbar machen. Deswegen wird es viele Veranstaltungen zu dem Thema geben. In den Niederlanden selbst wird englischsprachige Literatur immer präsenter: Vor allem junge Menschen lesen Titel aus dem englischsprachigen Raum – TikTok hat hier einen großen Einfluss. Weil die Jugendlichen sehr gut Englisch sprechen, möchten sie die Bücher im Original lesen. Ich finde diese Tendenz nicht nur positiv. Ich denke, es ist wichtig, in der eigenen Muttersprache zu lesen, für die man auch ein ganz anderes Gespür hat. Viele junge Menschen glauben, dass ihr Englisch perfekt ist. Aber reicht es wirklich, um alle Nuancen eines literarischen Textes zu erfassen?

Niederländische Kinder- und Jugendliteratur hat einen guten Ruf, sie wird viel übersetzt und ist international erfolgreich. Warum?

Dijkgraaf – Kinder- und Jugendbücher aus den Niederlanden haben den Ruf, Tabus zu brechen. Das wird als positiv wahrgenommen. Auch für jüngere Kinder gibt es viele Bücher, die offen mit Themen wie Sexualität und Rassismus umgehen. Diversität und Inklusivität sind derzeit in niederländischen Kinder- und Jugendbüchern sehr präsent. Ein großes Kinderbuchprogramm ist auch Teil unseres Gastlandauftritts. Wir legen einen Fokus auf Lesen als Erlebnis: Literatur muss nicht nur auf Papier stattfinden, deswegen kommen wir mit innovativen hybriden Formen von Literatur nach Leipzig. Es wird zum Beispiel eine literarische Laterna Magica geben, ein interaktives Literaturprojekt, bei dem Kinder gemeinsam mit Autor:innen an einer Story arbeiten. Und man wird Geschichten virtuell erleben können: Man setzt eine Brille auf und taucht in die Geschichten ein. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Kinder, aber auch Erwachsene von solchen neuen Formen begeistert sind. Damit kann die Tür zur Welt der Bücher geöffnet und die Begeisterung fürs Lesen geweckt werden.

Werbung
WdB Posting 2