anzeiger 11-12/23 – Grauen, aber spannend

Bücher, die von den schlimmen Seiten der Wirklichkeit erzählen: spannend, traurig und einfühlsam.

Text: Linn Ritsch.

Das Grauen wird uns von allen Medien praktisch hinterhergeschmissen. Sich die Geschichten hinter den Fakten und Videos vorzustellen, kostet Energie: so viel, dass man es manchmal lieber lässt. Grauen erträgt man vielleicht eher, wenn es nicht in der Zeitung, sondern in Büchern steht: fiktionalisiert und in einer spannenden Rahmenhandlung.

Tatsächlich geschehen ist alles, wovon Herbert Lackner in „Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt“ (Ueberreuter) schreibt. Bei der Uraufführung von Arthur Schnitzlers Stück „Reigen“ 1921 stürmten katholische und rechtsradikale Demonstranten das Theater. Sie randalierten, verprügelten und misshandelten Besucher:innen. Am nächsten Tag stand in der Salzburger Tageszeitung Volksblatt: „Die Salzburger Jugend hat eine Antwort erteilt, daß den jüdischen und vom Judengeist verseuchten Herrschaften die Lust vergehen wird, nochmal die christlich-deutsche Bevölkerung von Salzburg herauszufordern.“

Die Geschichte ist die erste von achtzehn Ereignissen, die Lackner schildert: Rassismus gegenüber der Entertainerin Josephine Baker bei ihrem Österreich-Besuch samt Bußgottesdiensten, die wegen der „Negerin aus dem Kongo“ in Wien abgehalten wurden. Den Mord an dem Journalisten Hugo Bettauer, den Feldzug gegen den Roman „Im Westen nichts Neues“ des Schriftstellers Erich Maria Remarque und die Vertreibung von Stefan Zweig.

Lackners Buch ist penibel recherchiert, seine Sprache hält die Balance zwischen fakten-basierter Berichterstattung und mitreißender Erzählung. Die „politische Kulturgeschichte Österreichs“, so der Untertitel, ist spannend und informativ, aber auch schockierend und traurig. Am traurigsten außer dem Wissen, dass alles wirklich stattgefunden hat, ist die Kontinuität dieser Geschichte. Moralische Überlegenheitsgefühle jener, die sich vermeintlich christlichen Werten verschrieben hatten, beeinflussten die österreichische Politik vor, während und nach dem Nationalsozialismus. Genau wie Engstirnigkeit, Antisemitismus und Rassismus.

Gudrun Lerchbaum erzählt in „Zwischen euch verschwinden“ (Haymon) eine frei erfundene Geschichte. Gleichzeitig beschreibt sie soziale Strukturen und Machtverhältnisse, die wir täglich sehen oder zu übersehen versuchen: Wie in Lackners Buch werden auch hier die Abgründe der österreichischen Gesellschaft sichtbar. Patriarchat und Fremdenfeindlichkeit spielen eine Hauptrolle in der Geschichte der Protagonistin Maria.

Maria ist Anfang vierzig, hübsch, zurückhaltend, liebenswürdig. Eine von vielen Frauen, die ihr Leben lang für andere da sind, nur nicht für sich selbst. Jahrelang pflegt sie ihre bettlägerige Mutter. Als diese plötzlich stirbt, brennen bei Maria die Sicherungen durch. Was, wenn sie für den Tod verantwortlich gemacht wird? Sie verlässt ihren Heimatort auf der Suche nach Freiheit und flieht aus ihrem alten Leben. Doch statt Freiheit zu finden, wird sie mit verschiedenen Mechanismen der Unterdrückung bekannt. Als ihr das Geld ausgeht, muss sie sich prostituieren. Wieder flieht sie und gerät neuerlich vom Regen in die Traufe. Genau wie bei ihrer nächsten Flucht, auf der sie ihren Namen und Akzent ändert und sich als Pflegekraft aus Rumänien ausgibt. Auf ihrem Weg hinterlässt Maria verletzte und tote Männer und Frauen, die ihr etwas angetan haben. Ist sie trotzdem unschuldig – oder nicht?

Lerchbaums Text ist kein Krimi im herkömmlichen Sinn. Es gibt weder Detektiv:innen noch werden offene Fragen geklärt: Wird Maria von ihrer Erinnerung im Stich gelassen? Hat sie mehr Blut an den Händen, als sie weiß? Indes hat das Buch viel von einem guten Krimi: Es ist unterhaltsam, spannend und ein wenig gruselig.

Auch Mary Ellen Mark zeigt Menschen, die benachteiligt, unterdrückt und ausgestoßen sind. Allerdings in Bildern: In „Encounters“ (Steidl) sind wichtige Werke der US-amerikanischen Fotografin abgebildet. Eine der bekanntesten Fotograf:innen des 20.  Jahrhunderts, gilt sie auch als eine der bedeutendsten. Berühmt wurde sie für ihre Bilder von Mutter Teresa, New Yorker Straßenkindern, Drogensüchtigen, Prostituierten und Zirkuskünstler:innen. Bei ihren Fotografien widmete sie sich den Menschen mit Geduld und Empathie und begleitete sie oft monatelang. Manche traf sie über Jahre hinweg immer wie-der. Die Fotos, die aus diesen Begegnungen entstanden, sind zutiefst berührend.

„Encounters“ ist der Bildband zu einer Ausstellung im C/O Berlin. Diese kann man noch bis 18. 1. besuchen, die Fotos sind zum Glück samt klugen Begleittexten in einem Buch aufbewahrt. Sich die Geschichten in den Bildern von Mary Ellen Mark entgehen zu lassen, wäre ein großes Versäumnis.

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