Ana Marwans Festrede für den Buchhandel

Wir freuen uns sehr, dass wir an dieser Stelle die Laudatio, die die Schriftstellerin Ana Marwan anlässlich der Verleihung des Österreichischen Buchhandlungspreises 2023 gehalten hat, in voller Länge veröffentlichen dürfen.

Buchhandlungen

Ana Marwan

Wenn man klein ist, hat man noch keine Vorstellung davon, wie groß beziehungsweise wie klein die Welt ist, die Welt ist noch keine blaue Kugel mit fünf grünen Kontinenten, die Welt ist bunt und grenzenlos, sie erstreckt sich in alle Richtungen wie das Weltall.

Man lernt jeden Tag etwas Neues, jeden Vogel sieht man einmal zum ersten Mal. Das kindliche Gehirn ist so beschaffen, dass es sich alles merkt, was überlebenswichtig sein könnte, aber gleichzeitig ist es so neu und frisch, dass es sich nicht sicher ist, was überlebenswichtig sein wird. So merkt es sich sicherheitshalber am Anfang alles. Im Laufe des Lebens schrumpft die Welt dermaßen auf das tatsächlich Überlebenswichtige, dass man nicht mehr die Amsel, den Buchfink, die Dohle, die Elster sieht, außer man ist Ornithologe; also wenn man kein Ornithologe ist, sieht man nur noch Vögel.

Wir kennen bis zu 100.000 Wörter, benutzen aber im Durchschnitt nur 14.000. Unsere Welt schrumpft samt der Hoffnung, samt dem Glauben, dass wir eine unendliche Welt bewohnen können.

Wo sind all diese Wörter, die wir erkennen, aber nicht benutzen?

Ja, in den Büchern. Diese dehnen unsere Welt wieder aus.

Als ich klein war und noch nicht lesen konnte, waren die Reihen der Buchstaben in den Zeitungen und in den Büchern für mich ein fester Beweis, schwarz auf weiß sozusagen, dass es da vor mir einen Sinn gibt, der mir nicht zugänglich ist, den ich nicht entziffern kann. Die Anziehungskraft war so stark wie bei dieser einen Tür im Haus meiner Tante, die ich nicht aufmachen durfte. Nichts hat mich mehr interessiert als das Zimmer dahinter. So lernte ich auch sehr schnell zu lesen. Ich las einfach alles Geschriebene, das ich gesehen habe, nur um immer wieder das Geheimnis zu lüften.

Das ging nicht gleich so leicht, weil, obwohl ich alles lesen konnte, konnte ich noch nicht alles verstehen. Ich ließ mich übrigens gerne von den Titeln bezirzen, und als ich auf einem Buchrücken im Regal meiner Eltern Madame Bovary sah, hat mich dieses Ypsilon am Ende, das wir im slowenischen Alphabet nicht haben, unglaublich angezogen. Meine Mutter war ob meiner neuen Lektüre entsetzt, mein Vater hingegen flüsterte ihr zu, das sei „unproblematisch“, weil ich „eh nichts verstehe“.

Das war dann die nächste Stufe beim Lüften des Geheimnisses. Ich musste jetzt den Sinn auf einer anderen Ebene entschlüsseln. Ich merkte mir alles, was ich nicht verstanden habe. Das ist nicht selbstverständlich, es sollte viel einfacher sein, sich Dinge zu merken, die man versteht. Aber wahrscheinlich hielt es mein Gehirn für überlebenswichtig, Unverständliches zu behalten und es allmählich zu entziffern, damit es kein potenzielles Sicherheitsrisiko darstellt.

Wie dem auch sei, Madame Bovary war sicherlich der Auslöser, dass mich meine Mutter zum ersten Mal in eine Buchhandlung mitnahm. In der Kinderabteilung sagte sie: „Du kannst dir hier aussuchen, was du willst.“ 

Was ich will?

Was ich will!

In der Sicherheit der Kinderabteilung.

Und in deren Reichtum!

Ich ließ mich von der Buntheit verführen, ich ließ Frau Bovary stehen. (Oder sagt man sitzen?)

Wenn ich fertig war mit einem bunten Buch, konnte ich ein neues bekommen. Ich kann mich erinnern, dass ich das zum Anlass genommen habe, die Mitarbeiter in der Buchhandlung anzusprechen. Sonst war ich sehr schüchtern und sprach nicht gerne fremde Leute an. Dort hatte ich plötzlich das Gefühl, ich könnte nichts falsch machen, wenn ich zu ihnen ging und sagte: „Könnten Sie mir bitte etwas zum Lesen empfehlen?“ Und immer, wenn sie daraufhin fragten: „Was liest du denn gerne?“, antwortete ich: „Madame Bovary“. Meine Mutter bat mich jedes Mal, das nicht zu sagen, aber es kam so gut an, ich konnte ihr Verbot einfach nicht einhalten.

Bald kannten sie mich dort, und als ich wuchs, wurden die Empfehlungen meinem Wachstum angepasst, bis ich so groß war, dass ich bei den Büchern für Erwachsene landete und sie auch halbwegs verstand. Ich sage „halbwegs“, weil hundertprozentig verstehen wir uns nie. Darüber hinaus gibt es Länder, die so weit, so fremd sind im Ort und in der Zeit, dass wir Anweisungen brauchen. Und den Willen.

Ich wollte – und ich verstand viel. Ich bildete mir ein, zu verstehen, warum sich Pärchen bei Murasaki Shikibu nach einem Stelldichein kleine Papierbändchen mit ein paar japanischen Schriftzeichen zukommen ließen – auch ich kriege nach einem Treffen gerne eine SMS.

Ich verstand die Neugier Odysseus’, der unbedingt die Sirenen singen hören wollte, weil auch ich die geheime Tür meiner Tante zu öffnen versucht hatte. Konsequenzen vorbeugend, jedoch in Kauf nehmend.

Ich weiß nicht, ob das der richtige Ort dafür ist, aber die Lesekultur geht in eine Richtung, die mich ermutigt zu erwähnen: Ja, ich konnte mich mit Odysseus identifizieren. Obwohl ich eine Frau bin. Weil ich ein Mensch bin. Ich finde es extrem wichtig, dass wir nicht nur Bücher lesen, die uns eine klare Identifikationsbasis bieten, sondern dass wir auch die Möglichkeit des Buches nutzen, in völlig fremde Welten einzutauchen und sich mit diesen vertraut zu machen.

(Aber bleibt trotzdem feministisch, bitte, das war keine Aufforderung zum Patriarchat!)

Literatur eröffnet für mich die sehr wichtige Möglichkeit, Empathie zu pflegen, um jeden Menschen auf der Welt in uns selbst finden zu können und ihm Gehör zu schenken.

Aber es gibt nicht nur Menschen auf dieser Welt, es gibt auch … zum Beispiel … Boote! Die findet man in einer Buchhandlung auch. Und nicht nur Boote, Amseln, Buchfinken, Dohlen, Elstern, sondern alles. Es gibt alles, ich werde jetzt überschwänglich und sage alles, was es auf der Welt gibt, und alles, was es gab, und vieles, was sein könnte oder hätte sein können. Die geschrumpfte Welt dehnt sich wieder aus.

Wer eine Buchhandlung betritt, kommt aus dem Alltag, in dem audiovisuelle Reize herrschen, idealerweise in eine Zuflucht – rein aus Papier und Buchstaben. Man kommt aus einer chaotischen Welt, in der nicht nur jede Menge Dinge passieren, sondern in der auch fast zwei Millionen Bücher pro Jahr erscheinen. Aus einer digitalen Welt, in der alle Empfehlungen unseren eigenen vorangegangenen Suchanfragen entspringen oder der höchsten Anzahl der an andere Menschen verkauften Exemplare.

In einer Buchhandlung kann man sich davon bis zu einem gewissen Grad befreien. Die Überflut der zwei Millionen wird in Ordnung gebracht. Alles steht im richtigen Regal, nicht nur nach Themen, sondern auch nach Alphabet geordnet, so eine Ordnung sucht man da draußen vergeblich! Wenn man Bestseller sucht, stehen sie griffbereit, wenn man Obskures sucht, stöbert man im Unzugänglichen, tief unten oder hoch oben, auch das ist gut, weil es in Ordnung ist. Und vor allem: Man kann darüber reden.

Wer wie Odysseus die Meere befahren will, geht in die entsprechende Buchhandlung und dort in die nautische Abteilung und macht sich anschließend auch ein wenig mit Astronomie bekannt. Weil man weiß: Wenn man zwei Millionen Sterne überall am Himmel verstreut sieht, ist man komplett verloren. Es braucht fixe Punkte, die jeder kennt, um sich orientieren zu können. Es muss jemanden geben, eine*n Verwandte*n, eine*n Lehrer*in oder eine*n Buchhändler*in, die/der einem hilft, ein paar Sterne zu erkennen und sie zum Beispiel zu einem großen Bären miteinander zu verbinden. Danach kann man immer mehr und mehr Sterne kennenlernen und man fühlt sich immer sicherer am Meer. Der nächtliche Himmel wird uns nie gänzlich vertraut sein, aber zumindest finden wir mit seiner Hilfe verlässlicher in den sicheren Hafen.

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Ana Marwan bei Ihrer Laudatio. Foto: BMLV/Paul Kulec
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