ORF Bestenliste November

Im November 2024 steigt Thomas Köck mit „Chronik der laufenden Entgleisungen“ (Suhrkamp) auf Platz 1 der ORF-Bestenliste. Barbara Zeman kommt mit „Beteigeuze“ (dtv) auf den 2. Platz. Den 3. Platz erreichen Clemens Meyer mit „Die Projektoren“ (S. Fischer), Jana Volkmann mit „Der beste Tag seit langem“ (Residenz) und Maria Stepanova mit „Der Absprung“ (Suhrkamp) ex aequo.

Platz 1: Thomas Köck „Chronik der laufenden Entgleisungen“, Suhrkamp

Der 38-jährige österreichische Autor Thomas Köck gehört zu den meist gespielten Dramatikern seiner Generation. Es sind vor allem die politisch brisanten Themen seiner Stücke, für die er mit Preisen überhäuft wird: Flüchtlingsströme, Rohstoffausbeutung, Klimakatastrophe – Köck verhandelt das ganze Krisenaufgebot unserer Zeit. In „Chronik der laufenden Entgleisungen“ nimmt sich Köck nun die politische Stimmung innerhalb seiner österreichischen Heimat vor. Ein Jahr lang, von 5. Juni 2023 bis 4. Juni 2024, hat er die österreichische Innenpolitik akribisch verfolgt. Mit analytischem Scharfsinn und bissiger Ironie kommentiert Köck die tägliche Flut an Verbalattacken auf die Demokratie und stätiger sprachlicher Grenzüberschreitung. Mit Blick auf den Ruhm berüchtigter österreichischer Aktivisten der Neuen Rechten und Prognosen zum Wahlsieg einer am rechtsäußersten Rand angesiedelten Partei versucht er Antworten auf die Frage zu finden: Wie konnte Österreich zur Speerspitze des europäischen Rechtspopulismus werden?

Platz 2: Barbara Zeman „Beteigeuze“, dtv

Barbara Zeman hat mit ihrem Debütroman „Immerjahn“ 2019 für Aufsehen gesorgt, denn im deutschsprachigen Feuilleton ist die 1981 in Eisenstadt geborene Schriftstellerin dafür in den höchsten Tönen gelobt worden. Für ihren neuen Roman hat sich Zeman mit dem Nachthimmel beschäftigt, allen voran mit einem bestimmten Stern: Beteigeuze, ein sogenannter Roter Riese im Sternbild des Orion. Die Heldin in Zemans gleichnamigen Roman hat eine geradezu manische Faszination für diesen Beteigeuze. Sie bildet sich ein, so etwas wie der menschliche Zwilling dieses Sterns zu sein und träumt davon, sich zu ihm ins All hinauf zu schaukeln. Zwischen den Zeilen wird dabei deutlich, dass diese Obsession das Symptom einer psychotischen Episode ist. Jenseits der Sternenhimmelromantik hat Zeman mit diesem Roman die Chronik eines menschlichen Zusammenbruchs aufgeschrieben, und das mit rührender Zärtlichkeit und großer sprachlicher Magie.

Platz 3 ex aequo: Clemens Meyer: „Die Projektoren“, S. Fischer

Mit dem Roman „Die Projektoren“ stand Clemens Meyer heuer auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Bei der Preisverleihung im Oktober ging Meyer schließlich leer aus, obwohl er als großer Favorit gegolten hatte. „Die Projektoren“ ist ohne Zweifel ein Ausnahmewerk: es hat mehr als tausend Seiten und ist mit einem riesigen Ensemble aus realen und fiktiven Figuren ausgestattet. Meyer umspannt darin einen Erzählkosmos, der von Leipzig über Belgrad bis ins kurdisch-irakische Grenzgebiet reicht, von der DDR über Jugoslawien bis zum sogenannten „Islamischen Staat“. Einen klaren Handlungsverlauf gibt es nicht, vielmehr wirft Meyer Schlaglichter auf die Geschichte des 20. und beginnendem 21. Jahrhunderts. Immer wieder taucht dabei ein Mann auf, der nur „Cowboy“ genannt wird und dessen Leben exemplarisch für die Brutalität des vergangenen Jahrhunderts steht: nachdem seine Familie von den Nazis ermordet wird, schließt er sich Titos Partisanen an, fällt später in Ungnade und zieht sich in die Gegend des kroatischen Velebit-Gebirges zurück. Dort heuert der Cowboy als Statist bei der Produktionsfirma an, die in dem Gebirgszug in den 60er Jahren die Winnetou-Filme drehte – an den selben Orten, wo er Jahrzehnte später den Ausbruch der jugoslawischen Bürgerkriege mitansehen wird. Später begegnen wir dem Cowboy in Deutschland, wo er sich mit dem Schreiben von Groschenromanen über Wasser hält, um schließlich als steinalter Eremit die Balkanroute in entgegengesetzter Richtung entlang zu wandern. Meyer gelingt hier eine faszinierende Mischung aus Trash und Tragödie, in der ebenso viel Platz für skurrilen Humor wie für Theorien zur menschlichen Wahrnehmung ist.

Platz 3 ex aequo: Jana Volkmann: „Der beste Tag seit langem“, Residenz

Die Schriftstellerin Jana Volkmann, die 1983 in Kassel geboren und seit einigen Jahren in Wien lebt, hat bereits mit ihrem vielgelobten Debütroman „Auwald“ auf sich aufmerksam machen können. Mit ihrem Zweitling „Der beste Tag seit langem“ stellt sie abermals großes literarisches Können unter Beweis. Volkmann, die zusammen mit anderen Wiener Autoren und Autorinnen den sogenannten „Tierlesekreis“ ins Leben gerufen hat, beschäftigt sich darin mit dem Verhältnis Mensch und Tier. Am Anfang steht ein Pferd: offenbar einem Fiaker entlaufen, trifft es auf Volkmanns Protagonistin, eine junge Frau namens Maja. Diese wohnt mit ihrer Nichte Cordelia in einem kleinen Wiener Vorstadthaus mit Garten, wo das zugelaufene Fiakerpferd künftig leben soll. Doch das idyllische Projekt stößt schnell auf Schwierigkeiten, denn der Garten wird unter den Hufen des neuen Mitbewohners schnell zur Schlammgrube, und auch die Nachbarn rümpfen über das halblegale Projekt bald die Nase. Unterstützung kommt ausgerechnet aus der Villa nebenan, denn Nadja, der jüngste Spross der Villenbesitzer, ist radikale Tierschutzaktivistin. Ihr Verein „MOrPH“ versucht Nutztieren das Streiken beizubringen und setzt sich dafür ein, dass das, was Tiere für den Menschen tun, endlich als Arbeit gewertet wird – Pensionsansprüche inklusive.

Platz 3 ex aequo: Maria Stepanova: „Der Absprung“, Suhrkamp

Maria Stepanova gilt als die erfolgreichste russische Lyrikerin der Gegenwart. Eine lange Liste internationaler Auszeichnungen ziert ihre Biografie, zuletzt etwa der Preis der Leipziger Buchmesse für Europäische Verständigung im Jahr 2023. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 entschied sich Stepanova Moskau zu verlassen, sie lebt heute in Paris. Um dieses Exil kreist auch ihr Roman „Der Absprung“, in dem eine Schriftstellerin namens M. gerade mit dem Zug unterwegs zu einer Lesung ist. Das Land, aus dem sie stammt, führt Krieg mit einem anderen benachbarten Land, doch im „Sommer 2023 wuchs das Gras weiter, als wäre nichts geschehen“, wie es im ersten Satz des Buchs lakonisch heißt. Diese Gleichzeitigkeit macht M. schwer zu schaffen. Sie fühlt sich gelähmt, sprachlos, auch wenn ihr bewusst ist, dass sie Glück hatte: weil sie weiter ihrer Arbeit nachgehen kann, sich ein schönes Haus in einem neuen Land leisten kann und nicht in Lebensgefahr schwebt. Plötzlich wird ihre Reise von eine Bahnstreik unterbrochen, strandet in einer fremden Stadt. Anstatt sich zu ärgern, freut sich M. fast ein bisschen über diese Unterbrechung, die sich bald in ein Abenteuer verwandelt. Was als autofiktionale Erzählung beginnt, kippt ins Surreale, Märchenhafte: Tarotkarten, ein Zirkusdirektor – und auf einmal so etwas wie die Möglichkeit zum Absprung und die Hoffnung auf eine andere Zukunft.

Die gesamte ORF-Bestenliste finden Sie hier.

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