ORF Bestenliste Juli

Im Juli 2024 steigt die Anfang des Jahres verstorbene Helena Adler mit dem posthum erschienenen „Miserere“ (Jung und Jung) auf Platz 1 der ORF-Bestenliste ein. Den 2. Platz teilen sich im Juli ex aequo Claire Keegan mit „Reichlich spät“ (Steidl) und Gerhard Roth mit „Jenseitsreise“ (S. Fischer).

Platz 1: Helena Adler „Miserere“, Jung und Jung

Die Schriftstellerin Helena Adler zählte zu den vielversprechendsten Autorinnen Österreichs. Sie hat Malerei am Salzburger Mozarteum studiert, für Aufsehen gesorgt hat sie mit ihren zwei Romanen „Fretten“ und „Die Infantin trägt den Scheitel links“, die inzwischen zu den Fixpunkten der jüngsten Literaturgeschichte zählen. Die österreichische Provinz seziert Adler darin hart wie liebend, ihre Prosa ist voll von emanzipatorischem Furor. Anfang des Jahres ist sie viel zu früh verstorben. Im Alter von 40 Jahren. Posthum ist nun das Buch „Miserere“ erschienen. Die Wut, die in ihrem Fall ein produktiver literarischer Motor war, ist auch darin zu finden. Das Buch birgt drei Texte Helena Adlers: mit dem titelgebenden hätte sie im Vorjahr bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt antreten sollen: die Erkrankung an Gehirntumor kam dazwischen. Auf Einladung des Literaturkritikers Klaus Kastberger hätte sie lesen sollen. Das Erschütternde an dem Text: es scheint darin die Krankheit vorweg genommen zu sein, ein Ich führt darin Zwiegespräch mit dem Tod. „Woher hat sie das gewusst? Als ob da wirklich eine letzte Energie geherrscht hätte, noch einmal bis zum Äußersten zu gehen“, so Kastberger. Helena Adler geht auch in ihren posthum erschienenen Texten zum literarisch Äußersten: hier wird Wirklichkeit nicht abgebildet, hier wird Wirklichkeit hergestellt, hier wird mit den Mitteln der Literatur der Welt gekontert, zugleich üppige Schönheit als Möglichkeit beschworen.

Platz 2 ex aequo: Claire Keegan „Reichlich spät“, Steidl

Claire Keegan wurde 1968 in Wicklow als Tochter einer irischen Bauernfamilie geboren, in Irland zählt sie zu den wichtigsten literarischen Stimmen ihrer Generation. Mit dem Roman „Kleine Dinge wie diese“ erlangte sie 2022 auch internationale Bekanntheit. Das Buch stand auf der Shortlist für den Booker Price und wurde erfolgreich verfilmt, mit Oscar-Preisträger Cillian Murphy in der Hauptrolle. Die Frauenfeindlichkeit im erzkatholischen Irland zählt zu den zentralen Themen ihres Schreibens. Ihre schmalen Bücher, die meist nicht mehr als 150 Seiten umfassen, zeichnen sich durch eine stark reduzierte, klare Sprache aus – so auch die Erzählung „Reichlich spät“. Auf nur 64 Seiten erzählt Keegan darin von einer gescheiterten Paarbeziehung, aus der Perspektive von Cathal, der nach einem Streit mit seiner Freundin Sabine seine Gedanken kreisen lässt. Vor nicht langer Zeit waren die beiden zusammengezogen und immer öfter aneinander geraten. Der Grund: Sabine wehrte sich beharrlich dagegen, dass sich in ihrem Zusammenleben alte Rollenmuster einstellen. In dem besagten Streit konfrontierte sie Cathal schließlich mit der Selbstverständlichkeit, mit der er ihr den Haushalt überlässt, warf ihm Frauenfeindlichkeit vor. Man merkt, wie unangenehm Cathal die Erinnerung an diesen Streit ist – weil er spürt, dass da etwas Wahres dran ist. Keegan lässt ihren Protagonisten erahnen, dass er sich diese Wahrheit nur eingestehen müsste, um seine Beziehung zu retten. Doch er wird sich anders entscheiden.

Platz 2 ex aequo: Gerhard Roth: „Jenseitsreise“, S. Fischer

„Jenseitsreise“ – so heißt jenes Buch, an dem der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth bis zu seinem Tod im Jahr 2022 gearbeitet hat. Jetzt ist sein letzter unvollendeter Roman auf über 360 Seiten erschienen. Darin schickt Roth sein Alter Ego ins Totenreich. „Immer schon wollte ich ein Buch schreiben, das niemand versteht“, steht am Beginn von Gerhard Roths letztem Werk. Das Rätselhafte, das Unglück und psychische Grenzerfahrungen beschäftigten den Vielschreiber Roth in seinem mehrere tausend Seiten umfassenden Textkonvolut immer wieder – so auch in der „Jenseitsreise“. „Ich bin überzeugt, dass man ins Nichts eingeht, dass man wie ein Tropfen im Meer vergeht. Ich glaube, dass das, was man „religiös“ nennt, mit dem Leben verbunden ist. Das heißt, wenn ich in die Landschaft schaue, empfinde ich religiöse Gefühle“, sagte Roth selbst über seine eigenen Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod. In seinem Roman hingegen ist dieses Jenseits symbolisch ausformuliert: Der Ich-Erzähler tritt seine letzte Reise an. Nach seinem Tod findet er sich im ägyptischen Schattenreich wieder. Sprechende Tiere und berühmte Dichter und Denker kreuzen seinen Weg. In vier handschriftlich verfassten Notizbüchern hat Gerhard Roth ein Romanfragment hinterlassen, das ihn posthum einmal mehr als kunstvollen Erzähler und Schöpfer phantasievoller Welten ausweist.

Die gesamte ORF-Bestenliste finden Sie hier.

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