Im Jänner 2025 klettert Samantha Harvey mit „Umlaufbahnen“ (dtv) auf Platz 1 der ORF-Bestenliste. „Gesammelte Gedichte 2004-2021“ (Suhrkamp) von Friederike Mayröcker kommt auf den 2. Platz. Den 3. Platz erreichen Betty Paoli mit „Ich bin nicht von der Zeitlichkeit!“ (Residenz), George Saunders mit „Die kurze und schreckliche Regentschaft von Phil“ (Luchterhand) ex aequo.
Platz 1: Samantha Harvey: „Umlaufbahnen“, dtv
Für ihren Roman „Umlaufbahnen“ ist die britische Schriftstellerin Samantha Harvey Anfang November mit dem Booker Price ausgezeichnet worden, dem wichtigsten Literaturpreis Großbritanniens, nun ist die deutsche Übersetzung erschienen. Der Titel ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn der Schauplatz des Buchs liegt nicht auf dieser Erde, sondern im All. Vier Astronauten und zwei Astronautinnen aus unterschiedlichen Ländern leben gemeinsam auf einer internationalen Raumstation, die den Planeten Erde mit 27.000 km/h umkreist. Zeitlich beschränkt sich der Roman auf exakt 24 Stunden, was auf der Station 16 Sonnenaufgänge und 16 Sonnenuntergänge bedeutet. Nacheinander taucht Harvey in die Gedanken ihrer sechs Figuren ein, die einen ganz individuellen und gleichzeitig allgemein menschlichen Blick auf ihren Heimatplaneten werfen. Handlung gibt es kaum, der Roman lebt von den gewaltigen Bildern, die ein solches Setting möglich macht: etwa wenn die Insassen der Raumkapsel minutiös mitansehen können, wie sich ein Taifun auf der Erde aufbaut, um sich schließlich mit voller Kraft auf den Philippinen zu entladen.
Platz 2: Friederike Mayröcker: „Gesammelte Gedichte 2004-2021“, Suhrkamp
Mindestens 120 Jahre alt wollte sie werden: die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker. Am 20.12. wäre die 2021 verstorbene Dichterin 100 Jahre alt geworden. Ihr Werk umfasst Tausende Seiten und zählt zum Eigensinnigsten und Gewichtigsten des 20. Jahrhunderts. Jetzt ist ein neues Buch erschienen, das ihre Gedichte der Jahre 2004-2021 zusammenfasst. Leben und Schreiben waren im Falle Mayröckers stets aufs Engste miteinander verwoben. Eine sehr grundlegende Rebellion prägt ihr Schreiben von Beginn an, das kommt auch in ihren Gedichten zum Ausdruck. An diesem soeben erschienenen Band kann man auch die besondere Gattung gut studieren, die Friederike Mayröcker ersonnen hat, in der Prosa, Lyrik und poetologische Reflexion verschmelzen. Auch ihre nicht zu bändigende Liebe zum Leben, an dem sie hing bis zuletzt, wird darin sichtbar. In einem der Gedichte ist zu lesen: „ich weidete in Poesie nämlich ich war nicht v. dieser Welt.“
Platz 3 ex aequo: Betty Paoli: „Ich bin nicht von der Zeitlichkeit“, Residenz
Betty Paoli ist in vielerlei Hinsicht eine Entdeckung: „Ich bin nicht von der Zeitlichkeit“ versammelt neben der Novelle „Anna“ eine hervorragende Auswahl an Gedichten, Kritiken, Essays und Feuilletons, herausgeben von Karin S. Wozonig. Die überzeugte Humanistin Betty Paoli (geboren 1814, gestorben 1894) schrieb intensiv über Liebe und weibliches Begehren in ihrer autobiografisch grundierten Lyrik. Gelehrt und mit kritischem Blick übertrug sie die Unterdrückung der Frau und die Heuchelei der Männer in die subtile Sprache der Poesie. Oft ist es ein Ich, das zu einem Du spricht – von Liebesglück und -leid, sich nach romantischer Erfüllung sehnt und Tod erlebt, wie in dem Langgedicht „Briefe an einen Verstorbenen“. Den Freunden Anastasius Grün und Adalbert Stifter, der Freundin Ida und der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff widmete Betty Paoli Gedichte. Das unbeachtete Werk letzterer hob sie in einer Rezension hervor, begleitet von einer scharfzüngigen Abhandlung über die gefällige Literaturkritik ihrer Zeit. „Ich bin nicht von der Zeitlichkeit“ zeigt einen enormen Reichtum an literarischem Können, Wissen und Erkenntnis: ein von der Literaturwissenschaftlerin Karin S. Wozonig mit guten Gründen über viele Jahre geborgener Schatz.
Platz 3 ex aequo: George Saunders: „Die kurze schreckliche Regentschaft von Phil“, Luchterhand
Der Amerikaner George Saunders hat sich vor allem als Autor genialer Kurzgeschichten einen Namen gemacht, nach „Lincoln in Bardo“ legt er nun seinen zweiten Roman vor. Mit „Die kurze und schreckliche Gesellschaft von Phil“ versucht sich Saunders am Genre der politischen Parabel. Konkret geht es darin um einen Grenzstreit zwischen zwei fiktiven Ländern, die von alienartigen Pflanzen-Maschinen-Mischwesen bevölkert werden: Innen-Horner und Außen-Horner. Innen-Horner ist ein ausgesprochen winziges Land, so winzig, dass darin nur jeweils ein Bewohner Platz hat. Die restlichen Bewohner Innen-Horners warten in der Kurzzeitaufenthaltszone Außen-Horners darauf, bis sie dran sind. Dieses komplizierte diplomatische Konstrukt gerät in die Krise, als Innen-Horner plötzlich schrumpft und der aktuelle Bewohner zum Teil nach Außen-Horner hineinragt – was die Außen-Horneriten als Invasion auffassen. Hier kommt der titelgebende Phil ins Spiel, seines Zeichens „Sondergrenzeinsatzkoordinator“ von Außen-Horner. Er nutzt die aufgeheizte Stimmung, um mit nationalistischer Hetz-Rhetorik auf der Karriereleiter steil nach oben zu klettern.
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