Lesen Sie hier die Laudatio des Autors und Journalisten Lothar Müller auf David Grossman zur Verleihung des Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln 2024.
Bis ans Ende des Landes
[Meine sehr geehrten Damen und Herren, lieber David]
Die beiden Wanderer wissen nicht recht, wo sie sind und wie der Berg heißt, an dessen steilem Abhang sie hinaufsteigen, zwischen Olivenbäumen, Mastixsträuchern und Weißdorn. An der Straße, die sie hinter sich gelassen haben, liegt ein umgefallener Stacheldrahtzaun in blühendem Klee. Sie sind der blau-weiß-orangefarbenen Wegmarkierung auf einem runden Felsstück gefolgt. Jetzt suchen sie auf der großen, in Plastikfolie eingeschweißten Landkarte, die der Mann aus seinem Rucksack gezogen hat, ihre Route. Schnell stoßen die Finger der Frau auf eine Grenzlinie. „Hoppla, sie hält an und zieht den Finger weg, der Libanon“. Mit einer gewissen Ehrfurcht stellen die beiden fest, dass sie auf dem Mount Meron sind.
Der Aufstieg zu dem Berg im Norden Galiläas zählt zu den Attraktionen des Israel National Trail. Der Mount Meron gibt einem Naturreservat den Namen, aber eine Landschaft, die nur Natur ist, gibt es in diesem Roman nicht. Am Aussichtspunkt auf dem Gipfel erinnern Freunde und Angehörige an den Oberleutnant Uriel Perez, „geboren am 17. November 1977 in Ofira, gefallen im Libanonkrieg am 26. November 1998. Er wanderte, kämpfte, studierte die Tora und liebte sein Land“.
David Grossmans Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ ist im Jahr 2008 erschienen. Ora, die Frau von etwa fünfzig Jahren, wollte die Wanderung durch Galiläa eigentlich mit ihrem Sohn Ofer unternehmen, zur Feier der Beendigung seines dreijährigen Militärdienstes, den er in den besetzten Gebieten abgeleistet hat. Aber als eine Mobilmachung ausgerufen wurde, ist Ofer zu seinen Kameraden zurückgekehrt, und Ora ist nun mit dem einstigen Geliebten Avram unterwegs. Die Nachricht, vor der Ora flieht, ist ständig gegenwärtig, Gedenktafeln säumen ihren Weg. Und wie die Landschaft sind die Biographien von Kriegserfahrungen punktiert. Avram, der im Jom Kippur-Krieg in ägyptische Gefangenschaft geriet, trägt die Narben der Folterungen auf dem Körper und unter der Haut. Ora und er haben sich als Jugendliche während des Sechstagekrieges kennengelernt.
Noch besser als der Originaltitel passt der englische zu diesem Roman: „To the End of the Land“. Denn die Figuren bewegen sich nicht nur auf die Grenzen des Staates Israel zu, der keine definitiven Grenzen hat, in ihnen wie in dem Satz, mit dem der Roman endet, rumort die Vorstellung von einem zeitlichen Ende Israel. „Sie dachte, wie dünn ist die Kruste der Erde.“ Der Satz bezieht sich nicht nur auf die Geologie, sondern zugleich auf die Geschichte der Landschaft. „Wenn mir etwas passiert, dann sollt Ihr das Land verlassen“, hat der Sohn, Ofer, der Mutter ins Ohr geflüstert, als sie ihn am Brigadetreffpunkt verabschiedete. „Wenn das noch eine Generation weitergeht, dann habt ihr hier nichts mehr verloren.“
Die Bücher gehen nicht berührungslos durch die Zeit. Jede Jetztzeit lässt andere Seiten an ihnen hervortreten. In unserer Jetztzeit, der Zeit nach dem Massaker vom 7.Oktober 2023, der Zeit des Krieges und der Toten im Libanon und in Gaza, der Zeit der getöteten und noch immer gefangenen Geiseln, treten Sätze wie der des jungen Ofer hervor, und die Sätze der Nachbemerkung des Autors über den Tod seines Sohnes Uriel im zweiten Libanonkrieg am 12. August 2006. Und es tritt hervor, wie sehr dieser Roman Nachkriegs- und Vorkriegsroman zugleich ist, wie sehr sich in ihm konzentriert, wovon das Werk David Grossmans insgesamt bestimmt ist. Er ist 1954 in Jerusalem geboren, neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der unauflöslich mit der Shoah verknüpft ist, sechs Jahre nach der Gründung des Staates Israel. Er war während des Sechstagekrieges ein Heranwachsender, noch nah an der Kindheit, und ist erwachsen geworden mit dem Jom-Kippur-Krieg. Er hat in den 1980er Jahren Reportagen über Israelis und Palästinenser im Westjordanland geschrieben und wurde zu einem „public intellectual“, der oft als „Autor und Friedensaktivist“ bezeichnet wird, als ließe sich der eine vom anderen trennen.
Die Intensität, mit der er in „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ die Landschaft in Galiläa, ihre Gewächse, ihre Düfte, ihre geologische Struktur zur Darstellung bringt, und die Sätze, in denen er in einer Rede in Harvard – auch das tritt jetzt hervor – die tiefe historische Bindung der Juden an ihr Land erklärt und gegen den Verdacht schützt, der Staat der Juden sei nichts als eine Ausgeburt des westlichen Kolonialismus, entstammen einer Quelle. Im Roman verbarrikadiert das Kind, aus dem einmal der Soldat Ofer werden wird, sein Bett mit Büchern und Spielzeug, mit kugelsicheren Wällen von Stofftieren. Es schläft mit einem Schraubenschlüssel unter dem Kopfkissen. Und tagsüber fragt es, warum Staaten wie Amerika, England oder Frankreich einfach existieren können, ohne dass man sie ständig wollen muss, Israel aber nicht.
Ofers Bruder Adam kennt schon vor seinem vierten Geburtstag alle Buchstaben und sieht in den Ritzen der Seifenstücke Schriftzeichen. Die Kinder sind die Sonde, die der Romanautor David Grossman ins Innere der historischen Erfahrung senkt. Sie haben eine feine Witterung für alles Verschwiegene und helle Ohren für Zwischentöne, Sprachfärbungen und Akzente. Sie schlagen die Brücke vom Zweiten Weltkrieg und der Shoah in Europa in den noch jungen Staat Israel und werden mit ihm älter. So entsteht im Bewusstsein des neunjährigen Jungen Momik im ersten Teil des Romans „Stichwort Liebe“ ein phantastischer Widerschein jenes vagen Landes „Dort“, in dem die Eltern die polnische Herkunftswelt der Familie und die Erfahrungen der Shoah verschwimmen lassen.
In das abstrakte Dort wandert das „Nazi-Biest“ ein, das mit Juden gefüttert werden will, es wird zum Echoraum, in dem sich das Hebräische mit dem Jiddischen und Einsprengseln des Deutschen mischt. In den Sprachobsessionen der Kinder und den Privatsprachen, die ihre Familien ausprägen, sind die Niederschläge historischer Erfahrung enthalten. Mit den Kindern sind die Familien und in ihnen häufig die Frauen die bevorzugten literarischen Sonden des Autors David Grossman. Es gehört zu seiner Kunst des Erzählens, dass er die komischen Züge dieser Durchdringung von Geschichtserfahrung und Sprachregistern so nachdrücklich zur Geltung bringt wie die darin enthaltenen Schrecken. Im Originaltitel des Romans „Der Kindheitserfinder“ ist die über die Kindheit hinausreichende Formel enthalten, die über seinem gesamten literarischen Werk stehen könnte: „Das Buch der intimen Grammatik“. Aus seiner intimen, inneren Grammatik gehen die Gedanken und Träumereien des jungen Aron Kleinfeld hervor, der in den Jahren, in denen Israel auf den Sechstagekrieg zugeht, sein Wachstum einstellt, aber keineswegs seine Beobachtungen und Hellhörigkeit, und schon gar nicht seine Leidenschaft für den Entfesselungskünstler Houdini.
Die Autorität, mit der David Grossman, der „public intellectual“, auch in Zeiten wie diesen darauf beharrt, dass trotz der Versehrungen, die Israelis und Palästinenser seit Generationen einander zufügen, beide Völker nur in einer von beiden ratifizierten Friedensordnung eine lebbare Zukunft haben werden, beruht nicht auf abstrakter Friedenssehnsucht, sondern auf der Erforschung des Unfriedens, der Versehrungen und Verletzungen mit den Mitteln der Literatur, durch die Sonden des Erzählens, einschließlich der erhellenden Kraft des Humors.
Das gilt für seine Kritik der Besatzungspolitik und des Siedlungsbaus wie für seine Mahnungen, dass sich langfristig das Existenzrecht Israels mit militärischen Mitteln allein nicht wird sichern lassen. Und es gilt für die Konsequenz, mit der er sich dem Aufstieg des religiösen Fundamentalismus und politischen Messianismus entgegenstellt, der in der Ermordung Jitzchak Rabins im November 1995 sein Fanal hatte, die Entwicklung der israelischen Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten geprägt hat und dem in seinen radikalen Ausprägungen theokratische Ambitionen nicht fremd sind.
An David Grossmans literarischem Projekt tritt vor diesem Hintergrund ein Element hervor, das ihm von Beginn an innewohnte, nun aber an Dringlichkeit und Aktualität gewinnt. Er hat als säkularer Autor seine Erzählkunst in ständigem Kontakt mit den Sprach- und Motivtraditionen der hebräischen Bibel entwickelt, die er seit Jahrzehnten in einem Lesekreis studiert. Diese Rückbindung seines Erzählens an die Bibel als literarische Quelle teilt er mit seinem 2018 verstorbenen säkularen Freund Amoz Oz, der 2006 gemeinsam mit ihm vor die Kameras trat, um die Beendigung des Libanon-Kriegs zu fordern und der in seinem letzten großen Roman „Judas“ die berühmteste Negativfigur des Neuen Testaments aus jüdischer Perspektive neu gedeutet hat.
Die Rückbindung an die Bibel zeigt sich nicht nur dort, wo David Grossman eine Heldenfigur wie Samson betrachtet und kommentiert, um Einspruch gegen ein Israel zu erheben, das allein auf Stärke setzt. Sie zeigt sich in den Nebensätzen, Anspielungen und Zitaten, von denen seine Romane bis in ihre Kapillaren hinein durchdrungen sind. „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück“, flüstert Avram in „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“. Er hebt durch diese Wendung aus dem Psalm 23 hervor, dass er sich bei seiner Wanderung durch Galiläa auf biblischem Boden befindet und fügt hinzu: „Denn meine Geschichte ist bei mir.“ Er weiß sich nicht mehr in Gott, dem Herrn, aufgehoben, sondern im Erzählen, in der Literatur, im modernen Roman. Und so sehr er dem Gedanken nachhängt, in dieser Landschaft redeten alle Wege Hebräisch, so gut weiß er doch zugleich, dass sie auch Arabisch sprechen.
Nicht nur die Juden, auch die Christen und Muslime sind Kinder Abrahams. Schon durch den Erstling Grossmans, den Roman „Das Lächeln des Lammes“, spukt im Umkreis des alten Arabers und Geschichtenerzählers Chilmi die biblische Erzählung von der Bindung Isaaks. Die Sprache der Bibel ist nicht ornamental in Grossmans Werk, und sie ist nicht mit sich allein, sie gehört zum Sprachkosmos seiner Romane wie die intime Grammatik und der Wortschatz des Jiddischen, des gebrochenen Hebräisch, der Popmusik, der Filme, des Slang und der Standup-Comedy, wie in dem Roman „Kommt ein Pferd in die Bar“, in dem der traurige Clown Dovele Selbstaufklärung auf offener Bühne betreibt und die Aufklärung des Publikums gleich mit.
Die hebräische Bibel ist im Werk Grossmans nicht etwa deshalb anwesend, weil der säkulare Autor sie den Frommen entführen wollte. Sie ist eine ausgestreckte Hand, die auf das Gemeinsame verweist. Von diesem Handausstrecken muss hier, wo David Grossman für Toleranz in Denken und Handeln geehrt wird, die Rede sein. „Ich möchte nicht in einer Welt leben, die solche Monstrositäten zulässt“, hat er wenige Tage nach dem Massaker der Hamas im Oktober 2023 im deutschen Fernsehen gesagt und in seiner Rede „Schwarzer Schabbat“ über die Terroristen: „ob man sie Bestien nennen sollte, weiß ich nicht, ihr menschliches Antlitz aber haben sie zweifelsohne verloren“. Der säkulare Autor Grossman, der von sich selbst sagt, nur das menschliche Leben sei ihm heilig, weiß um die theologische, auf die Gottesebenbildlichkeit bezogene Bedeutung des menschlichen Antlitzes. Er bringt sie nicht nur in seiner Kritik des Terrorismus, der Akteure des Massakers zur Sprache. Den Vers Mose 1, 27 – „Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn, schuf sie als Mann und Frau“ – zitiert er seit Jahren auch in seinen Warnungen vor den depravierenden und deformierenden Folgen der Besatzungspolitik für die Israelis selbst, nicht nur für die Palästinenser: „Wie kann jemand, der an die Gottesebenbildlichkeit glaubt, sein Ebenbild mit Füßen treten?“ Wer so fragt, will eine Brücke schlagen zwischen der Religion und dem Universalismus der Menschenrechte und der Menschenwürde, auch im Krieg.
Die Formel „Toleranz in Denken und Handeln“ im Namen des hier verliehenen Preises ließe sich im Blick auf die Forderungen bedenken, die Kants praktische Vernunft stellt. Sie ruft aber auch das Konzept des „Tikkun olam“ auf, das im Judentum die rabbinische Tradition und die moderne säkulare Welt verbindet. Es meint die Reparatur, die Heilung und Umformung der als versehrt vorausgesetzten Welt. Manche schlagen auch die Übersetzung vor „die physische Welt bewohnbar machen“. David Grossman hat in seiner Dankesrede zum Erasmuspreis des Jahres 2022 den Begriff als wesentlichen Charakterzug der jüdischen Identität und zugleich als universalistisches Gebot ausgelegt, als „ein Gefühl der Verantwortung gegenüber jedem Menschen, sei er nun Jude oder nicht“.
Die Handlungsaufforderung des „Tikkun olam“ richtet sich stets an das Individuum. Im Fall des Individuums David Grossman meint sie das Schreiben, die Verwandlung erlebter Geschichte in die Erzählung von fiktiven Figuren. Wer ihn liest, weiß, dass die Reparatur der Welt in seinem Werk der stets zurückweichende Horizont ist. Die Kruste der Erde ist dünn, die Existenz des Landes, dessen Grenze zum Libanon Ora und Avram bei ihrer Wanderung durch Galiläa vor Augen haben, nicht gesichert, die israelische Gesellschaft tief gespalten.
In der Kunst, mit den Mitteln des Erzählens, der Literatur, dennoch immer weiter auf diesen zurückweichenden Horizont zuzugehen, hat David Grossman es weit gebracht. Dafür verdient er alles Lob und alle Bewunderung. Herzlichen Glückwunsch zum Preis für Toleranz in Denken und Handeln!