Dieses Jahr erhalten Ljuba Arnautović, Paul Ferstl, Anna Felnhofer und Friederike Gösweiner das renommierte Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien. Die monatlich ausbezahlten Stipendien sind mit einer Gesamtsumme von 18.000 Euro dotiert.
Seit über 40 Jahren vergibt die Kulturabteilung der Stadt Wien das Elias-Canetti-Stipendium zu Ehren des Literaturnobelpreisträgers. Das Stipendium dient der Förderung umfangreicher literarischer Projekte und wird zunächst für ein Jahr gewährt, mit der Möglichkeit einer Verlängerung auf bis zu drei Jahre. Es richtet sich an Autor:innen mit einem bereits etablierten Werkverzeichnis und ermöglicht ihnen, sich über einen längeren Zeitraum intensiv ihrer schriftstellerischen Tätigkeit zu widmen.
„Rieger“ (Arbeitsstitel) – Ljuba Arnautović
Ljuba Arnautović (*1954 in Kursk, Sowjetunion) ist eine österreichische Autorin, Journalistin und Übersetzerin. Ihr Roman „Im Verborgenen“ erschien im Picus-Verlag, „Junischnee“ und „Erste Töchter“ im Zsolnay-Verlag.
Die Jurybegründung:
Mit ihrer Trilogie „Im Verborgenen“, „Junischnee“ und „Erste Töchter“ hat Ljuba Arnautović das zeitgenössische Schreiben in Österreich um einen autobiografisch-historischen Ansatz bereichert, in dem autofiktionale Elemente, eingebettet in einen sorgfältig recherchierten Kontext die Geschichte des 20. Jahrhunderts – und vor allem deren Verwerfungen – als Individualgeschichte erfahrbar macht, frei von Spekulation und Ressentiment. Mit dem in Arbeit befindlichen Romanprojekt „Rieger“ verlässt sie die eigene biografische Spur, zeigt aber anhand des Evangelischen Pfarrers Hans Rieger, der als Gefangenenseelsorger vom Ständestaat über den Nationalsozialismus bis in die Zweite Republik tätig ist, wie vernetzt Schicksale sein können und wie sehr die eigene Geschichte mit jener von scheinbar fremden Individuen zusammenhängt: wie Individualgeschichte letztlich auch Kollektivgeschichte ist
„Rostrot“ – Paul Ferstl
Paul Ferstl ist ein österreichischer Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Verleger wissenschaftlicher Publikationen. „Das Grab von Ivan Lendl“ und „Fischsitter“ sind im Milena Verlag erschienen.
Die Jurybegründung:
„Rostrot“ kann man ohne Übertreibung als gewaltiges, in seiner Dimension in der österreichischen Literatur einzigartiges literarisches Projekt bezeichnen, bei dem mit erzählerischen Mitteln über den Zusammenhang von Industrialisierung und politischer und damit gesellschaftlicher Entwicklung reflektiert wird. Am Beispiel der steirischen Eisenstraße erzählt Paul Ferstl – immer entlang historisch belegter Ereignisse und Personen – die Geschichte einer Industrieregion zwischen 1933 und 1950 aus unterschiedlichen Perspektiven und schafft so eine Arbeiter-, Unternehmer-, Widerstands-, Mitläufer- und Wiederaufbausaga, die nichts weniger darzustellen versucht, als das fragile, mitunter fragwürdige und doch tragfähige Fundament der Zweiten Republik.
„Schlichte Luftsäulen“ – Anna Felnhofer
Anna Felnhofer ist als Psychologin und Autorin tätig. Im Luftschacht-Verlag veröffentlichte Felnhofer ihren Debütroman „Schnittbild“, der 2021 auf der Shortlist Debüt für den Österreichischen Buchpreis vertreten war.
Die Jurybegründung:
Das Gehör als sozialster menschlicher Sinn verdeutlicht in „Schlichte Luftsäulen“ die eigene Position in der Gesellschaft und so entfremdet die krankhafte Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten Geräuschen die Protagonistin von allem und allen rund um sie. In der Einschicht einer Almhütte verschwimmen Realität und Einbildung immer mehr. Der Titel von Anna Felnhofers Romanprojekt stammt aus einem Essay des Philosophen Jean-Luc Nancy zum Gehör, dessen Fragen der Konstitution von Subjektivität und des Selbst die Autorin in einer präzisen literarischen Sprache fortführt und neu stellt. Felnhofer hat bereits in ihrem Debütroman diagnostische Verfahren in eine sehr eigene poetische Sprache übersetzt – die Jury ist davon überzeugt, dass sie die psychologischen Phänomene, mythologische Fährten und die zeitgenössische Rahmenhandlung mit dem Streben nach Einzigartigkeit und Ruhm, Konkurrenz im Wissenschaftsbetrieb wie auch in der Paarbeziehung in aller Komplexität souverän erzählerisch zusammenführen und ins Absurde treiben wird.
„Zeit-Genossenschaft“ – Friederike Gösweiner
Friederike Gösweiner ist eine österreichische Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin. Publiziert hat sie u. a. im Literaturverlag Droschl und im Studienverlag.
Die Jurybegründung:
An den Verwerfungen der Gegenwart und ihren Auswirkungen auf den Einzelnen hat Friederike Gösweiner seit ihrem Debüt „Traurige Freiheit“ ein ausgeprägtes literarisches Interesse. Ihrem aufklärerischen essayistischen Projekt „Zeit-Genossenschaft“ legt sie erneut die Annahme zugrunde, die globale Ordnung sei im Begriff, an ihren fehlerhaften Grundnarrativen – etwa Wachstums- und Leistungsgesellschaft – und einer zunehmenden Wissenschaftsfeindlichkeit zu scheitern. Als Philosophin denkt Gösweiner den worst case, den „schlimmstmöglichen Fall, um herauszufinden, wie etwas sein soll“. Die literarische Suche nach dem Rettenden verspricht „Zeit-Genossenschaft“ auf zwei Ebenen: Formal, indem die Autorin angesichts der Dringlichkeit ihr personell unbestimmtes Gegenüber („to whom it may concern“) direkt anspricht und mit dem Brief bzw. der Flaschenpost eine für sie neue und zugleich kultur- und literaturgeschichtlich sehr alte Form wählt. Und inhaltlich, indem sie das utopische Potenzial der Literatur nutzt, um von Alternativen und einem besseren sozialen Modus der Koexistenz zu erzählen.