Archive des Schreibens: Thomas Stangl

Im Rahmen des Gastlandauftritts Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 entsteht in Kooperation mit dem ORF-Fernsehen unter dem Titel „Archive des Schreibens“ ein filmisches Archiv österreichischer Gegenwartsliteratur, das zeitgenössische österreichische Autor:innen in ästhetisch wie inhaltlich anspruchsvoll gestalteten Kurzporträts einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. In der neuen Folge ist Thomas Stangl zu sehen.

Im großen und immer breiter werdenden Kapitel der österreichischen Gegenwart nimmt der Autor Thomas Stangl eine ganz besondere Stellung ein. Das taktile Begreifen der Welt aus den Möglichkeiten und auch Ablenkungen des Texts zelebriert er am radikalsten. Und schließt hier eigentlich in der „Stunde null“ der übersehenen Moderne nach 1945 im Land an. Stangls Texte eröffnen ganz neue Welten – und nicht ohne Zufall leuchtet sein letztes Buch auch in der Nacht.

Wenn es so etwas wie eine „Stunde null“ der Moderne und des Radikal-Zeitgenössischen nach 1945 in Österreich gibt, dann beginnt diese Stunde für die Literatur im Land im September 1945 mit dem Text „Das vierte Tor“ im „Wiener Kurier“, den die bis dahin unbekannte, junge Autorin Ilse Aichinger verfasst hat. Geschichte, Erleben und Stimmen, die von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft berichten, schieben sich als Texttektonik in den Erzählraum. Vollkommen neue Perspektiven gehen auf, und es scheint, dass dieser radikale Ansatz, die Mikroeinheit einer Erzählung und das Gesamtgefüge eines Texts zusammenzubauen, bis heute trotz Ingeborg Bachmann und vielen anderen fast uneingeholt ist.

Der 1966 in Wien geborene Autor Thomas Stangl, der nach dem Philosophiestudium und einer intensiven Auseinandersetzung mit der dekonstruktiven Literaturtheorie als Kritiker und Essayist in Erscheinung trat, scheint genau an diesen Ansatzpunkte der Welterfahrung Aichingers nach 1945 wieder anzuknüpfen. Texte ermöglichen eine Neu- und Umperspektivierung der Welt. Und in Stangls letztem Roman, „Quecksilberlicht“, geht die Reise in einer Welt los, die unweit vom „Vierten Tor“ der Ilse Aichinger liegt. Aichinger meinte mit dem Vierten Tor den jüdischen Teil des Zentralfriedhofes.

Stangl, so zeigt es das Porträt, ist mit dem Sammeln von Eindrücken befasst, die vor allem viel mit Topografien zu tun haben. Dass man dabei Fotos macht, ist Teil eines Sammel-, aber auch Hinterfragungsprozesses. „Wenn man genau sagen wollte, wer man denn in Freiheit wäre, wäre es gar keine Freiheit mehr, weil es ja wieder eine feste Definition ist“, so der Autor.

Sehen können Sie Thomas Stangl im ORF-Topos-Player im neuesten Porträt der ‚Archive des Schreibens‘-Reihe unter folgendem Link: https://topos.orf.at/archive-des-schreibens-thomas-stangl100

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