anzeiger 10/24 – Ein wunderbares Gefühl

So nennt der Friedensaktivist und Autor David Grossman, was beim Schreiben entsteht, und fordert all jene, die es betreiben, auf, auch im Krieg darin nicht nachzulassen. Literatur habe unter allen Umständen stimmig und präzise zu sein.

Interview: Erich Klein.

Der Schriftsteller David Grossman wird heuer vom HVB mit dem Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln ausgezeichnet. Als Sohn polnischer Einwanderer 1954 in Jerusalem geboren, wurde er neben seiner Tätigkeit als Autor von Romanen, Essays, Kinder- und Jugendbüchern auch als Friedensaktivist bekannt. Nach dem Studium von Philosophie und Theater leistete er einen vierjährigen Militärdienst und war dann jahrelang als Moderator für den öffentlich-rechtlichen Hörfunk „Kol Israel“ tätig. In seinem Romandebüt „Das Lächeln des Lammes“ (1983) setzte er sich mit dem in der israelischen Literatur ausgesparten Thema der Besatzung ausei­nander, wenige Jahre später folgten Reportagen zum selben Thema unter dem Titel „Der gelbe Wind“. Während der Arbeit an „Eine Frau flieht vor eine Nachricht“ fiel sein Sohn Uri im August 2006 während der Kämpfe im Südlibanon. Grossman wurde für sein Friedensengagement wie für seine literarische Arbeiten ausgezeichnet. Am 16. November 2023 hielt er bei einer Trauerfeier für die von der Hamas Ermordeten, Gefolterten und Verschleppten eine Rede, die auch in seiner jüngsten Publikation „Frieden ist die einzige Option“ (Hanser 2024) enthalten ist.  

Herr Grossman, wenn Sie ein Jahr nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel von jungen Europäer:innen und Amerikaner:innen die Sprechchöre „From the river to the sea …“ hören, schockiert Sie das?

David Grossman – Da ich seit Langem in dieser Gegend lebe, schockiert mich gar nichts mehr, auch diese Dummheiten nicht. Natürlich kann Israel kritisiert werden, manchmal verdient es auch Kritik. Ich selbst kritisiere es sehr oft. Aber die Legitimität der Existenz Israels wird mit dem Slogan „From the river to the sea“ bestritten. Die Israelis sollen ins Meer getrieben werden. Das kann ich nicht akzeptieren. Ich finde es schrecklich. Das ist nicht nur grausam. Dass Menschen einen solchen Slogan schreien, ist eine spezielle Art von Barbarei und Niedertracht. Noch dazu so wenige Jahre nach der ­Shoah, nachdem wir, die Juden, millionenfach abgeschlachtet und ermordet worden sind. Man hat das Gefühl, dass die Leute nur einen Grund suchen, um die Auslöschung Israels zu fordern. Darüber hinaus sagt das auch etwas über die Menschheit aus, über die Grausamkeit der Menschen.

Israel ist ja anerkannt …

Grossman – Wissen Sie, wenn wir in den Zeitungen lesen, dass der amerikanische Präsident erklärt, er werde das Existenzrecht Israels unterstützen, sind wir normalerweise sehr stolz, und es wird uns ganz warm ums Herz. Immerhin hat das der Präsident der Vereinigten Staaten gesagt. Eines Tages begann ich aber darüber nachzudenken, wa­rum wir nach sechsundsiebzig Jahren in Souveränität und Unabhängigkeit noch immer um Erlaubnis und nach unserer Legitimität fragen müssen. Niemand wird besonders betonen, dass der Präsident der Vereinigten Staaten das Existenzrecht Italiens oder Österreichs unterstützt. Es klingt ganz normal, dass es diese Länder gibt. Natürlich gibt es sie! Nur Israel ist nach sechsundsiebzig Jahren immer noch unsicher. Wir sind die Einzigen, denen diese Beständigkeit fehlt. Der Grund dafür liegt auch darin, dass wir keinen Frieden haben und zu keinem fixen Bestandteil in den Köpfen der Menschen wurden. Es ist uns nicht gelungen, uns im Herzen und im Geist der Menschen festzusetzen – nicht bloß als Kuriosum und als unglaubliche Geschichte, die die Menschen von Zeit zu Zeit schockiert. Sondern als mehr oder weniger normales Land wie alle anderen auch. Das ist nur möglich, wenn es Frieden gibt. Und ich meine einen wirklichen Frieden.

Es gibt Fortschritte wie das Abraham-Abkommen …

Grossman – Das Abraham-Abkommen ist ein sehr wichtiger Schritt zur Festigung Israels im Nahen Osten. Aber es ist nicht genug, weil es in gewisser Weise die Bestürzung oder sogar die Abneigung der Araber gegenüber den Palästinensern widerspiegelt. Diese werden von den arabischen Ländern nicht geliebt. Sie unterstützen Palästina nur, weil sie diese Pflicht haben und weil es ihnen in ihrem Hass oder ihrer Feindseligkeit auf Israel hilft. Aber das Abraham-Abkommen ist kein echter Frieden. Es ist der Frieden der Reichen. Und weil er im Grunde die Palästinenser ignoriert, träume ich von einem Frieden, der die Palästinenser und natürlich die Israelis einschließt, einem Frieden, der beiden Seiten ermöglicht, das Leben zu leben, für das sie bestimmt sind. In dem sie all ihre Fähigkeiten und Talente, ihren Mut und ihre Würde für eine neue Art von Beziehung einsetzen, die es ihnen ermöglicht, zusammenzuarbeiten und ein anderes Leben zu führen. Ein Leben, in dem man den anderen akzeptiert, und ein Leben, das nicht sofort immer wieder in Gewalt und Hass umschlägt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das erleben werde, denn der Hass ist in den Herzen beider Völker tief verwurzelt. Aber wenn wir uns dieses Ziel setzen und auch erreichen wollen, müssen wir damit auch beginnen. Und dieser Punkt ist, wie ich schon sagte, heute vielleicht ein wenig näher als noch vor einem Jahr, als die Hamas dieses schreckliche, grausame und bösartige Massaker an uns verübt hat.

Uri, der Protagonist Ihres ersten Romanes „Das Lächeln des Lammes“, liest während seines Militärdienstes den französischen Autor Romain Gary. Was lesen Sie derzeit?

Grossman – Ich habe gerade Colm Tóibíns „Der Zauberer“ über Thomas Mann gelesen, eine Art Biografie, aber aus der Feder eines großen Schriftstellers. Ich lese Manuskripte, die mir verschiedene Leute geschickt haben. Grundsätzlich ist es aber sehr schwer, in Zeiten des Krieges zu lesen. Man wird vom Gefühl beherrscht, dass sich die Seele vor der Realität verschließt, um sich zu schützen. Gelegentlich lese ich Gedichte, weil ich das eher ertrage als Prosa oder große Romane.

Wie verhält es sich mit dem Schreiben?

Grossman – Es ist schwierig, in dieser Zeit zu schreiben. Ich bin froh, dass ich mich gerade in den letzten Wochen wider aller Erwartungen plötzlich in einer Geschichte wiedergefunden habe. Nichts ist mit der Freude vergleichbar, die ich in dem Moment empfinden, wenn ich merke, dass sich die Notizen, die ich mir von Zeit zu Zeit mache, am Ende zu einer Erzählung oder einem Roman zusammenfügen. Mir sind heute Novellen wie „Tod in Venedig“ oder „Mario und der Zauberer“ am liebsten, oder auch „Eine einfache Geschichte“ von Israels größtem Autor Samuel Agnon. Auch wenn ich nicht behaupten würde, dass ich etwas ganz Neues schreibe, aber die Welt schaut plötzlich ganz anders aus, wenn ich schreibe. Mir fallen dann bestimmte Details auf, die ich vorher übersehen habe. Es ist ein unglaubliches Vergnügen und ein Privileg, in dieser Welt voller Krankheit, Vulgarität und Brutalität etwas Präzises und Stimmiges zu machen. Das ist nicht nur ein wunderbares, es ist auch ein notwendiges Gefühl! Ja, alle Schriftsteller und Künstler sollten genau das tun, akkurat und präzise sein. Ein wunderbares Gefühl.

In Ihrem Roman „Kommt ein Pferd in die Bar“ geht es um einen Stand-up-Comedian, der in seiner Show immer unlustiger und aggressiver wird. Ein Symbol für die Rolle von Literatur und Kunst heute?

Grossman – Ja, das kann man so sagen. Ich schreibe gern über Künstler:innen und habe dabei das Gefühl, dass sie für mich ein Mittel sind, um die Realität nicht nur besser zu verstehen, sondern um auch besser zu sein. Die Spannungen und Widersprüche, die Schriftsteller oder Dichter, Filmleute oder Maler zwischen der Welt, die sie haben wollen, und der Welt außerhalb von ihnen spüren, ist für mich ein wichtiges Motiv. Ich meine das Ringen um Genauigkeit, die Anstrengung, sich nicht Klischees, Vorurteilen oder Verallgemeinerungen hinzugeben. Vor allem in Zeiten des Krieges, in denen wir immer versucht sind, Klischees zu benützen, weil wir glauben, sie könnten vor der Grausamkeit der Realität schützen. In Wirklichkeit führen Klischees nur immer noch tiefer in das Klischee.

Welcher Ihrer Romane war für Sie am schwierigsten zu schreiben?

Grossman – „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“. Das hat mit den Umständen zu tun, in denen ich lebte, als ich es schrieb. Es geht in diesem Buch um eine Frau, die sehr sicher ist, dass ihrem Sohn, der gerade zum Militär geht, etwas Schreckliches passieren wird. Ich hatte schon drei Jahre daran geschrieben und dann hatte ich unseren Sohn verloren. Die Umstände kamen dem, was ich zuvor beschrieben hatte, ziemlich nahe. Ich wusste damals nicht, ob ich das Buch würde retten können. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich den Inhalt des Manuskripts zwei sehr guten Freunden erzählt habe, die im letzten Jahr gestorben sind, Amos Oz und Abraham Jehoshua. Ich habe zu ihnen gesagt, dass ich das Buch nicht fertigstellen kann. Sie waren genau am Tag der Schiwa, dem siebenten Tag der Trauer, den wir im Judentum haben, zu mir gekommen, um mir beizustehen, und sie haben mich ermutigt, weiterzumachen. Es war eine Zeit ungeheuren Kummers für mich. Ich war überzeugt, dass ich das Buch nicht würde retten können. Aber beide sagten: Das Buch wird dich retten. Und so war es dann auch. Anfangs war es sehr schwer, zu diesem Buch zurückzukehren. Am ersten Tag nach der Schiwa ging ich in mein Schreibzimmer, ein einfaches Zimmer, konnte dort gerade fünfzehn Minuten allein bleiben. Ich war von allem dermaßen mitgenommen, dass ich weglief. Am nächsten Tag blieb ich zwanzig oder dreißig Minuten. Allmählich wurde die Zeit, die ich in meinem Zimmer mit meinen Figuren verbringen konnte, immer länger. Bis mir schließlich klar wurde, dass ich gerade dabei war, meinen Figuren Wärme, menschliche Wärme und sogar Humor, Leidenschaft und Lebensfreude einzuflößen. Das hatte dann bewirkt, dass die Geschichte, während ich schrieb und immer weiterschrieb, auf mich selbst zurückwirkte. So blieb es bis zum Ende dieser Geschichte. Es dauerte noch fast drei Jahre, aber dann war das Buch fertig.

Das Buch spielt im Norden Israels, wo gerade der Krieg stattfindet.

Grossman – Genau dort. Aber meine Protagonist:innen bewegen sich nicht im Libanon.

Es gibt die Formel „Israel hat keine Zukunft“. Das widerspricht dem großen Ansehen, das Israel zum Beispiel als Hightech-Land genießt.

Grossman – Das kommt vom menschlichen Bedürfnis, Held:innen und Schurk:innen zu haben und eine gute Geschichte zu erzählen. Wir waren eine sehr gute Geschichte: Nur wenige Jahre nach der Shoah, nach dem Holocaust, wurden wir von fünf Ländern umzingelt und angegriffen und konnten sie besiegen. Dieser Sieg machte uns zu fast überlebensgroßen Helden. Israel versorgte die Welt bei vielen Gelegenheiten mit solchen Helden: Seine Gründung als Staat galt als eine Art säkulares Wunder. Man konnte sich diesem Gefühl gar nicht entziehen: Nachdem wir gedemütigt und vernichtet worden waren, erstanden wir plötzlich aus der Asche und schufen uns einen Platz in der Welt und unseren Staat. Wir haben die arabischen Länder besiegt, Millionen von Neuankömmlingen aufgenommen, das Wunder einer Kultur auf Hebräisch, Landwirtschaft, Industrie und Hightech geschaffen. All das in sehr kurzer Spanne!

Was ist dann schiefgegangen?

Grossman – Die Schieflage entstand, weil wir keinen Frieden mit unseren Nachbarn hatten, und uns weigerten, die Tatsache anzuerkennen, dass wir Palästina besetzen. Die meisten Israelis haben sich nie eingestanden, dass sie zu Besatzern wurden. Sie dachten, die Araber würden es akzeptieren und sich an unsere Besatzung gewöhnen. Aber so funktioniert das nicht. Wir fanden uns in der schrecklichen Lage des Besatzers wieder, waren dazu verdammt, uns auch so zu verhalten: mit der Brutalität und Grausamkeit eines Besatzers, der ignoriert, was er der besetzten Gesellschaft antut. Irgendwie haben wir uns in diese Position sogar verliebt, weil das nicht nur wirtschaftliche Vorteile bedeutet, sondern auch die Möglichkeit, einer anderen Gesellschaft die Realität zu diktieren. Es gibt die Versuchung, über Macht zu verfügen, die man dann einsetzen oder auch nicht einsetzen kann. Diese verlockende Situation erfahren auch viele andere Länder. Man sieht, dass sie dieser Versuchung nie widerstehen oder sich weigern, die Vorteile einer Besatzung aufzugeben. Es gibt auch etwas ganz Extremes: das Vergnügen daran, böse zu sein. Du erlebst, dass du böse sein und andere erniedrigen kannst. Damit wird der Kreislauf des Bösen in Gang gesetzt.

Es gibt Ihrer Meinung nach keine Möglichkeit, innezuhalten?

Grossman – Wenn jemand einwendet: Hey, überlegt mal, was ihr da tut, kommt nur die Antwort: Wir tun das, was uns zusteht. Das ist unser Land. Was hier geschieht, entscheiden wir! Wenn die Araber das nicht wollen, dann sollen sie verschwinden. Schritt für Schritt und ohne es zu merken, haben wir uns in der schlimmsten menschlichen Situation wiedergefunden. Denn noch schlimmer, als besetzt zu sein, ist, ein Besatzer zu sein. Damit haben wir die Chance verloren, das zu verwirklichen, was der Kern unserer Sache war: ein Zuhause in dieser Welt. Wir haben uns von der Möglichkeit ausgeschlossen, in Israel erstmals in der Geschichte eine Heimat für alle Juden und Jüdinnen und andere Menschen zu schaffen. Statt ein Heim zu haben, haben wir begonnen, eine Festung zu errichten. Eine Festung als Zuhause zu haben, ist in dieser Welt nie genug, sie führt zu Erstarrung. Man ist gefangen in der Festung, die gegen andere errichtet wurde. In der Festung begann sich unsere Realität zu verändern, obwohl wir gedacht hatten, wir wären stärker … Ich wünsche mir, dass es nach dem Ende des Krieges eine andere Situation im Nahen Osten gibt: Frieden zwischen Israel und Saudi-Arabien und einigen anderen Ländern, Frieden zwischen Israel und dem Libanon. Nicht zwischen Israel und Hamas oder Hisbollah, hier ist die Situation viel komplizierter. Vielleicht werden die Menschen im Libanon die Hisbollah los und verstehen dann, dass ihr Land gekapert wurde und sie daran gehindert werden, ein normales Leben mit normalen Beziehungen zu uns zu führen. Es gibt kaum Konfliktpunkte zwischen uns und Beirut, und wenn, könnten sie von beiden Seiten gelöst werden. Aber die Hamas hält diese Konflikte ständig am Leben. Hamas und Hisbollah müssen einige der Regeln, die ihnen die internationale Gemeinschaft auferlegt, auch akzeptieren. Wenn gleichzeitig Druck auf Israel ausgeübt wird, könnten wir von einer Realität überrascht werden, in der Normalität oder Dialog möglich sind. Ich sage nicht „Frieden“, denn davon sind wir noch weit entfernt.

Kann der Krieg nicht gewonnen werden?

Grossman – Der letzte Krieg, der Israel so zermürbt hat, zeigt, dass wir nicht gewinnen können, weil jeder Sieg wieder umgestaltet wird. Das hat uns deutlich vor Augen geführt: Israels größtes Kapital ist Frieden. Ohne ihn werden wir als Gesellschaft immer mehr verkommen. Nur im Frieden werden wir in der Lage sein, jenes Leben zu leben, für das wir bestimmt sind. Nur dann können wir auch unseren Platz im Nahen Osten finden, wo wir als Kultur, als Religion und als Sprache unseren Ursprung haben. Die arabischen Länder werden keine andere Wahl haben, als uns zu akzeptieren und anzuerkennen, was sie jahrzehntelang abgelehnt haben. Vielleicht wird dann die Flamme des Hasses erlöschen, zumindest für einige Jahrzehnte. Ich wünsche mir das für mich selbst, meine Kinder und Enkeltöchter. Sie sollen, anders als ich, ein normales Leben führen können.

Gelegentlich lesen Sie Gedichte. Schreiben Sie welche?

Grossman – Ich habe mich selbst nie für einen Dichter gehalten, habe immer schon die Länge von Prosa, also von Romanen, bevorzugt: Mir gefällt die Art, wie ein Roman einen aufnimmt und die ganze Welt um einen herum auch in die Form des Romans bringt. Alles, was mir widerfährt, findet sich an der einen oder anderen Stelle als Echo im Buch wieder, an dem ich gerade schreibe. Ich werde selbst zu einem der Protagonisten. Das ist ein außerordentlich schönes Gefühl.

David Grossman (c) Claudio Sforza
(c) Claudio Sforza
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